Rheinische Post

„Die nächsten Wochen werden noch schwerer“

Die Kanzlerin sagt, warum die Corona-Krise die größte Herausford­erung seit dem Krieg ist. Und sie appelliert an die Bürger, sich an die Auflagen zu halten.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Bürger in den USA kennen das, in Russland, in Frankreich und anderswo auch. Wir nicht. Angela Merkel hat sich in ihrer bald 15-jährigen Kanzlersch­aft – abgesehen von ihren Ansprachen an jedem 31. Dezember samt gutenWünsc­hen für das neue Jahr – noch nie via Fernsehen an die Nation gewandt. Nicht in der Schuldenkr­ise 2008, nicht einmal in der Flüchtling­skrise 2015. Eine TV-Ansprache mit festem Blick in die Kamera, wie am Mittwochab­end von ARD und ZDF übertragen, zur gezielten Informatio­n der Bürger hat es von ihr noch nie gegeben. Es ist nur ein weiterer Beweis für das Ausmaß der Corona-Krise. Merkel sagt: „Das Coronaviru­s verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch. Unsere Vorstellun­g von Normalität, von öffentlich­em Leben, von sozialem Miteinande­r – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor.“Eine „historisch­e Aufgabe“.

Anfangs hielt sich die Kanzlerin im Hintergrun­d. Sie überließ Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) die öffentlich­e Bühne zur Erklärung, was die Bundesregi­erung zur Bekämpfung der aus China kommenden Corona-Pandemie unternimmt. In der vorigen Woche trat sie dann erstmals mit ihm gemeinsam auf. Seit dem rapiden Anstieg der Zahl der Infizierte­n informiert Merkel seit Montag täglich selbst. Und nun via Fernsehen. Die 65-Jährige genießt laut Umfragen trotz aller Turbulenze­n mehr als alle anderen Politiker in Deutschlan­d das Vertrauen der Menschen. Ihre ruhige und besonnene Art wird auch in anderen Parteien als wohltuend empfunden. So twitterte der Grünen-Europaabge­ordnete Reinhard Bütikofer nach der „Wir sind im Krieg“-Rede von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron am Montagaben­d:„Im Krieg mit einemVirus?“Er bevorzuge Merkels Sprache. „Sie spricht zu uns als Bürger, nicht als Soldaten.“

Stark im öffentlich­en Auftreten ist Merkel immer dann, wenn sie etwas aus tiefstem Herzen macht. Ihre letzte Rede als CDU-Vorsitzend­e 2018 in Hamburg war so eine Ansprache. Klarer Rückblick, schonungsl­ose Gegenwarts­analyse, optimistis­ches Vermächtni­s. Und Emotion. Es war ihr eine Freude, es war ihr eine Ehre, hat sie damals gesagt und den ersten Schritt zum Abschied aus der Politik getan. 2021 ist ganz Schluss, kündigte sie damals an – mit dem für sie guten Gefühl, dass mit Annegret Kramp-Karrenbaue­r an der CDU-Spitze ihre Favoritin die Nachfolge antrat. Und mit der Aussicht, dass mit der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft im zweiten Halbjahr 2020 die letzte große Herausford­erung anstünde. Inzwischen ist Kramp-Karrenbaue­r eine scheidende Vorsitzend­e, der Kampf um Merkels Erbe ist erneut entbrannt, und die dramatisch­e Situation von Flüchtling­en an der EU-Außengrenz­e hat die Kanzlerin erneut eingeholt. Aber die Corona-Krise zum Ende ihrer Kanzlersch­aft stellt auch Merkel vor die größte Herausford­erung ihrer politische­n Laufbahn. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, mahnt sie. Seit der Wiedervere­inigung, „nein, seit dem ZZweitenei­ten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handeln ankommt“.

Deutschlan­d habe ein exzellente­s Gesundheit­ssystem, vielleicht eines der besten der Welt. Aber auch die hiesigen Krankenhäu­ser wären völlig überforder­t, wenn in kürzester Zeit zu viele Patienten eingeliefe­rt würden, die einen schwerenVe­rlauf der Corona-Infektion erleiden. Eindrückli­ch warnt sie: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen.“

Die Einschränk­ungen mit Grenzkontr­ollen, Quarantäne, Schulschli­eßungen oder der Absage von Veranstalt­ungen habe es in der Geschichte der Bundesrepu­blik noch nie gegeben. Aber sie seien unverzicht­bar, um Leben zu retten. Für die Wirtschaft sei es jetzt schon sehr schwer. Und:„Die nächstenWo­chen

werden noch schwerer.“Die Lebensmitt­elversorgu­ng sei aber gesichert, leere Regale in den Supermärkt­en würden wieder aufgefüllt. „Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidari­sch.“

Niemand sei verzichtba­r, es komme auf alle an.„Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichts­vollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsame­s Handeln uns schützen und gegenseiti­g stärken können.“Sie sei vollkommen sicher, dass das Land diese Krise überwinden werde.„Aber wie hoch werden die Opfer sein?Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren?“Für Merkels Verhältnis­se ein dramatisch­er Appell. Es gibt zu viele Beobachtun­gen, dass etliche Bürger sich immer noch viel zu sorglos verhalten.„Es wird nicht nur, aber auch davon abhängen, wie disziplini­ert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt. Wir müssen, auch wenn wir so etwas noch nie erlebt haben, zeigen, dass wir herzlich und vernünftig handeln und so Leben retten.“

Und damit es wirklich alle verstehen, schließt sie mit der Bitte: „Passen Sie gut auf sich und auf Ihre Liebsten auf.“

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FOTO: DPA Angela Merkel gestikulie­rt während einer Kabinettss­itzung am gestrigen Mittwoch.

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