Vereinzelte Kultur
Die Corona-Krise wird den bereits begonnenen Wandel unseres kulturellen Lebens beschleunigen. Begonnen hat er mit der Digitalisierung schon länger. Am Ende könnte der Abschied von der Massenkultur stehen.
Niemand ist so bescheuert, ernsthaft zu fragen, ob die Fußballbundesliga auch nach überstandener Coronakrise noch spielen wird – mit Bayern als Duselmeister und Dortmund als unglücklicher Vize. Ganz anders ist es in der Kultur: Hinweise darauf, dass nach längerer Durststrecke einiges vom gewohnten kulturellen Angebot von der Bildfläche verschwinden und auch nicht mehr wieder auftauchen wird, stoßen dagegen auf nachdenkliche Aufmerksamkeit, egal ob auf zustimmende oder empörte.
Das liegt zunächst einmal am der wirtschaftlichen Ausgangslage. Kulturschaffende leben, wenn sie nicht an staatlich oder kommunal geförderten Einrichtungen beschäftigt sind, in größtenteils ökonomisch prekären Finanzverhältnissen. Nach jüngsten Zahlen waren hierzulande 188.332 selbständige Kulturtreibende in der Künstlersozialversicherung – mit einem Jahresdurchschnittseinkommen von 17.852 Euro.
Dass dennoch so viele schreiben und musizieren, malen und darstellen, liegt weniger an einem ausgeprägten Sinn für Selbstausbeutung; viele Kunst- und Kulturschaffende sind einfach überzeugt davon, das für sie einzig Richtige zu tun. Man wird in der Regel nicht Künstler, weil einem nichts anderes eingefallen ist. Sondern weil man da, was man tut, als eine Art Berufung begreift und lebt.
Dass es solche Menschen gibt, weiß die Gesellschaft zunehmend weniger zu schätzen. So etwas spiegelt sich auch in der verbreiteten Vorstellung, dass die Bürgergesellschaft Theater, Opernhäuser usw. mehr oder weniger großherzig„subventioniert“. Nein, das tut sie nicht – sie „finanziert“ihre Künste. Und das zum eigen Nutzen: für Anregungen und Debatten, selbstverständlich auch zur Unterhaltung.
Nun haben unsere Kulturbetriebe, vor allem in der bildenden Kunst mit der „Erfindung“von Museen, aber auch in der Literatur und teilweise in der Musik, ihre jetzige Gestalt schon im 19. Jahrhundert angenommen. Und sie wurden bis heute fast unverändert kultiviert. Daran haben wir uns all die Zeit nicht nur gewöhnt. Wir haben sie für unumstößlich gehalten und als ewig gültig angesehen. Wir alle sind davon überzeugt, dass Kunst und Kultur – etwas pathetisch gesprochen – bleibende, nachhaltige Werte auch für unser Zusammenleben vermitteln. Nur muss dies nicht zwangsläufig auch auf die Formen ihrer Vermittlung zutreffen.
Das ist die Zustandsbeschreibung einer Kulturszene, die von der Krise jetzt schwer getroffen und darum auch nachhaltig verwandelt wird. Bei allen Forderungen nach Unterstützungen durch diverse Kulturfonds werden voraussichtlich viele Strukturen verlorengehen, etliche, vor allen freie Kultureinrichtungen schließen und viele Kulturschaffende sich nach anderen Berufen umschauen müssen. Das sind große Verluste von Angeboten, von denen einige nie mehr wiederbelebt werden.
Doch es spricht manches dafür, dass unsere veränderte Kulturrezeption ohnehin die Betriebe verwandelt hätte. Wahrscheinlich nur langsamer und dezenter. Die Corona-Krise kann in diesem Sinne als Beschleuniger eines kulturellen Paradigmenwechsels gesehen werden, der sich seit geraumer Zeit andeutet.
Ausgangspunkt ist einmal mehr die Digitalisierung. Mit Jürgen Habermas meldete sich in der Zeitschrift „Leviathan“jüngst einer der weltweit einflussreichsten Philosophen zu Wort. Er sprach von umwälzenden Folgen der neuen Medien, vom Kulturkampf der klassischen Darstellung gegen originelle Selbstdarstellung. Der Buchdruck, so der 90-Jährige, habe alle Nutzer zu potenziellen Lesern gemacht (auch wenn dies bis zur Umsetzung drei bis vier Jahrhunderte dauerte); die neuen Medien hingegen machten alle Nutzer zu potentiellen Autoren, und das in einer vergleichsweise weitaus kürzeren Zeit.
Dadurch würden zentrifugale Kräfte freigesetzt. Die Internet-Öffentlichkeit ist nach Habermas ihrem Wesen nach fragmentiert. Unsere Kommunikation spielt sich dort auf auseinander driftenden Inseln ab. Klassische Medien und Künste konnten und können noch die Aufmerksamkeit eines Publikums bündeln. Das anarchisch geprägte digitale Netz befeuert die kleinen Nischen. Das heißt auch: Unsere Diskurse über große Themen werden künftig in viel kleineren, womöglich auch narzisstisch geprägten Kreisen geführt.
Das Gemeinschaftserleben wird zunehmend verlorengehen, was bislang sinnstiftend für unsere Kulturrezeption gewesen ist. Theater, Oper, Konzertsäle – sie sind im besten Sinne in unserer bürgerlichen Gesellschaft zu dem geworden, was im alten Griechenland die Agora gewesen ist: nämlich ein zentralerVersammlungsplatz auch von Meinungen.
Natürlich fallen einem jetzt all die Streamingangebote der Künstler, Musiker, Autoren ein. Doch das sind bestenfalls kleine Brücken aus der gegenwärtigen Kulturwelt in eine künftige. All die Lesungen jetzt inWohnzimmern, die Angebote virtueller Museumsbesuche, die Konzerte und Opern, die ohne Publikum aufgeführt werden müssen, die aufgezeichnet und so im Netz den Interessierten angeboten werden, sind nichts anderes als die Reminiszenzen der konventionellen Kultur. Kultur im Homeoffice ist eine Pointe der Krisenzeit, die keine neue Struktur in sich birgt.
Zu orakeln, welche Darbietungsformen sich künftig tatsächlich etablieren werden, wäre jetzt Kaffeesatzleserei. Doch so viel scheint sich abzuzeichnen: Die Digitalisierung aller Lebensbereiche wird eine Entkörperlichung auch der Kultur zur Folge haben. Möglicherweise werden so auch Kulturevents mit Zuschauermassen bald zu einem historischen Phänomen. Die Beschwörung, dass Kultur vor allem ein Gemeinschaftserlebnis ist und sich erst in dieser kollektiven Wahrnehmung entfaltet oder überhaupt entsteht, könnte ein nostalgisches Gefühl sein, das sich vor allem an den bekannten Kunstformen orientiert.
Die Massenkultur war einmal. Was wir derzeit unter Quarantäne erfahren, könnte das Bild dessen werden, was wir in Zukunft erleben. Wobei neben der Digitalisierung noch ein weiterer Aspekt hinzukommt: das ist der sparsame Umgang mit Ressourcen; also mit Reisen, mit dem Verbrauch von Papier, Energie, Rohstoffen. Ein neuer, der Ökologie verpflichteter Lebensvollzug wird auch aufs Kulturleben abstrahlen müssen. Wer beginnt, den CO2-Verbrauch von Mega-Kulturevents zu errechnen und klimaneutrale Großveranstaltungen einfordert, könnte das Ende solcher Phänomene einläuten.
Wenn wir aber daran glauben, dass Kultur in der modernen Gesellschaft auch zur Meinungs- und Bewusstseinsbildung ihren Beitrag leistet, dann muss am Ende gefragt werden, wie eine Fragmentarisierung auch auf das öffentliche Leben abstrahlt. Genau das ist es, was den 90-jährigen Jürgen Habermas umtreibt. Wie nämlich digitale Öffentlichkeiten vormals gemeinsame, diskursive Willensbildungsprozesse verdrängen und schließlich ganz ablösen. Das, was künftig noch entsteht, könnte somit unter den Bedingungen der Corona-Krise schon in diesen Tagen und Wochen zu besichtigen sein. Wenigstens würde dieser Blick in die Zukunft die Chance bieten, Fehler in diesem Strukturwandel der Öffentlichkeit frühzeitig zu erkennen.