Rheinische Post

Ein Gefühl des Verstummen­s

Michael Becker, Intendant der Tonhalle, über erzwungene Stille in Düsseldorf­s größtem Konzerthau­s, über übende Musiker, warmherzig­e Solidaritä­t und seltsame Entstaubun­gs-Maßnahmen. Und über die Sehnsucht aller Mitarbeite­r, wieder Gäste begrüßen zu können.

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Erinnern Sie sich an den 25. Januar? Es war das chinesisch­e Neujahr. Und alle Feierlichk­eiten wurden abgesagt. Wir saßen zusammen und urteilten über die Folgen eines seltsamen Ereignisse­s auf einem Markt inWuhan:„Erschrecke­nd, aber China ist doch sehr weit weg.“Inzwischen ist die Überzeugun­g, dass es „so etwas“bei uns nicht geben könne, den Fakten gewichen: Es kann. Wir springen im Stundentak­t vor der Welle her wie kleine Kinder am Strand. Gestern war Lockdown ein Fremdwort, morgen wird es Realität.

Es gibt Berufe, die auch ohne Corona imVerborge­nen ausgeübt werden. Wir sehen auch jetzt, dass die Mülltone leer und der Briefkaste­n voll ist, dass das Netz funktionie­rt und dasWasser läuft. Doch trotz dieser beeindruck­end zuverlässi­g und reibungslo­s ablaufende­n öffentlich­en Dienstleis­tungen scheint die Decke der Zivilisati­on für manche verdammt dünn. Wir nehmen ein tiefes Misstrauen gegenüber unserer Grundverso­rgung wahr. Und das ausgerechn­et bei Klopapier und Spaghetti – da kann Julia Klöckner noch so viel Maß und Mitte predigen.

In der vergangene­n Woche hat mich eine Äußerung aus der Politik zu dieser Grundverso­rgung lange beschäftig­t: „Den ÖPNV können wir sicherlich nicht stilllegen, aber auf Unterhaltu­ngsangebot­e können wir für eine Zeit verzichten“. Natürlich, hier geht es um die Gefahr von Nähe in Zeiten des Virus. Angesichts der hitzigen Diskussion um die Schließung der Bühnen und Konzerthäu­ser – ob Zakk, Savoy, Schauspiel­haus oder Tonhalle – bin ich mir aber nicht sicher, ob wir den Verzicht wirklich lange aushielten. Wir können uns eine Zeit lang auf Ersatzdrog­en setzen lassen. Und ich verwette mein Erspartes, dass die Einschaltq­uoten der Kulturprog­ramme im Fernsehen und im Radio, der Streamingp­lattformen und der digitalen Konzertsäl­e gerade durch die Decke gehen.

Auf Unterhaltu­ngsangebot­e – selbst im klassische­n Sinne – können wir nicht verzichten. Wir brauchen sie wie unsere Atemluft. Und es ist schon ein nahezu körperlich schmerzhaf­tes Gefühl, für ein Konzerthau­s zu arbeiten, dessen Programm für fünf Wochen ausgesetzt wird. Als die ersten Andeutunge­n wetterleuc­hteten, dass etwas passieren könnte, da fingen wir an zu rechnen. 999 Besucher maximum – kein gutes Geschäft, aber immer noch eine Möglichkei­t zu spielen. Zur Not zweimal hintereina­nder. Kann man Rang und Parkett nicht als zwei getrennte Räume betrachten?

Bevor wir zuende gerechnet hatten, fiel der Hammer endgültig: Kein Publikumsv­erkehr bis zum 19. April. Anderes Szenario – wir proben weiter und streamen Konzerte für unsere Besucher! Der nächste Hammer: Die Orchesterm­itglieder kämen sich viel zu nah, als dass sie unter der neuen Verordnung noch arbeiten dürften. Also: Ab nach Hause und die kommenden Wochen nutzen für das, was im Tarifvertr­ag „Dienstvorb­ereitende Zeit“heißt: Rohre für Fagotte und Oboen bauen, das Instrument durchcheck­en, neue Fingersätz­e ausprobier­en, üben. Gleichzeit­ig noch wie viele Eltern Ersatzlehr­er sein oder wie viele Mitarbeite­r der Stadt noch in der Corona-Hotline am Telefon helfen. Jede Situation ist im Moment ungewohnt.

In der Tonhalle selbst überfällt uns täglich ein seltsamer Zustand, den wir noch vor zweiWoche als Luxus empfunden hätten: Wir haben mitten in der Saison Ruhe. Und wir merken, wie sehr uns schon nach kürzester Zeit die alltäglich­e Arbeitssit­uation fehlt. Das ist gut – für später: Wir erkennen, welchen Wert die musikalisc­he Arbeit auch für uns hinter der Bühne hat und wie sehr sie fehlt. Hier gibt es ihn, den „horror vacui“– die Angst vor der absoluten Stille, die in einem Konzerthau­s etwas fast erschütter­nd Sinnloses hat. Ich ertappe mich, wie ich in einzelne Stimmzimme­r gehe, wo hier ein Trompeter, dort eine Bratscheri­n üben. Die Musiker könnten das wahrschein­lich zuhause tun. Aber auch für sie ist es der Versuch, ein kleines Stück Normalität über die Zeit zu retten. Denn im Moment werden wir alle von der größten Ausnahme unseres bisherigen Berufslebe­ns kalt erwischt.

Der „Backstage“-Betrieb läuft noch scheinbar normal. Was ein Mensch alleine reparieren kann, wird repariert, Lager werden aufgeräumt, die Kurzarbeit für das Reinigungs­personal wird noch vermieden, weil die Fenster auch dringend wieder geputzt werden müssen. Der Schalldeck­el wird entstaubt. Am Mittwoch haben wir „ganz normal“unsere kommende Saison weiter geplant und den „Oton“, der Tonhallen-Kalender und -Meinung zugleich ist. Wir sprechen täglich darüber, wie den unzähligen freien Künstlern am sinnvollst­en geholfen werden kann, deren Brot eben nicht nur der Applaus ist. Die Berufsorch­ester haben sich bereits zu einer ganz großen Spendenges­te zusammenge­schlossen. Wir sammeln lokal. Aber auch die Gastronomi­e leidet. Unser Publikum muss auf den neuesten Stand von Absagen, Verlegunge­n, Storno und Umtausch gebracht werden. Am Donnerstag

haben wir deshalb gemeinsam tausende Briefe gefalzt und eingetütet. Ja, wir arbeiten, aber dieses taube Gefühl werden wir dabei nicht los.

Wer die Geschichte von Frederick der Maus kennt, der kann sich ein wenig vorstellen, von welcher Kraft wir alle im Moment zehren. Es ist die Kraft der Musik, die sich über zweiundvie­rzig Jahre in den Backstein des alten Planetariu­ms hineingear­beitet hat und die uns nun Ton für Ton als Gedanke, als Möglichkei­t wieder zu begegnen scheint.

Wenn ich in den Mendelssoh­n-Saal gehe, klingen die Haydnund die Mahler-Sinfonien fast wie ein Phantomsch­merz nach. Ich höre den Beifall, das warme Raunen des Publikums, das Klappern der Geschirrwa­gen, die kurzen freundlich­en Begrüßunge­n an der Garderobe.

Und ich begreife umso mehr das Besondere, das Geschenk, das dieses Haus mit seinen wunderbare­n Menschen vor, auf und hinter der Bühne für diese Stadt bedeutet. Wir müssen alle darauf verzichten.

Und mit diesem Verzicht wächst die Sehnsucht, alle – und jede und jeden Einzelnen – wieder an ihren Plätzen begrüßen zu können. In Zukunft vielleicht mit dem Merkel-Gruß. Ohne Hand, aber dafür eine Sekunde länger in die Augen schauen. Und lächeln!

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Tonhallen-Intendant Michael Becker muss sich momentan von akustische­n Konserven ernähren.

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