Rheinische Post

Miles Davis zum Hören und Anschauen

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er saß dann in Strickjack­e da und rauchte, er rauchte, bis jedes Atom Sauerstoff erledigt war, er rauchte viel, und zwar HB. Die Küche war schlecht beleuchtet, „Funzellich­t“, schimpfte mein Vater oft, aber weil wir stets viel klagten, aber selten etwas gegen den jeweiligen Grund zur Klage unternahme­n, blieb die Küche über Jahre schummerig. Das Licht war gelb, hell-orange, um genau zu sein. Es ließ Konturen verschwimm­en, alles wirkte milder in unserer Küche, man sah nicht klar, und nach einer halben Schachtel HB sah man eigentlich gar nichts mehr. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, als das Stück „Blue in Green“zu hören.

Bill Evans rollt in „Blue In Green“einen Teppich aus, auf dem du in die Nacht gehst, und Miles bläst nicht, sondern schmeichel­t. Wer das hört, fühlt sich, als sitze er in Tokio in einer Bar im hundertste­n Stock eines Wolkenkrat­zers, und unter ihm wuselt die in Dunkelheit getauchte Stadt, die mehr Einwohner als Menschen hat. Nichts kann dir etwas anhaben, wenn Du „Blue In Green“hörst, in„Blue In Green“bist du sicher und geborgen, das ist die menschenfr­eundlichst­e Musik, die ich mir nur vorstellen kann.Was das denn sei, das wir da hörten, fragte ich. „Miles“, antwortete mein Vater. Es verging einige Zeit, dann sagte er: „Dolle Musik.“Ich entgegnete: „Ja.“

Nach und nach hörte ich alles von Miles, alles, was mir in die Finger kam zumindest, denn niemand kann ja alles von Miles hören, leider. Er wurde zu einem meiner Helden, „In A Silent Way“und „On The Corner“würde ich auf die einsame Insel mitnehmen, und das fast 30 Minuten lange „He Loved Him Madly“ist eins der schönsten Stücke, die je gespielt wurden. „Vote Miles“steht auf dem Cover von„On The Corner“. Meine Stimme hat er.

Wir hörten über die Jahre noch ein paar Mal „Kind Of Blue“in unserer Küche, mein Vater und ich. Wir kamen ins Reden über Miles und den Jazz, und bei jeder neuen Session war ich besser informiert, hatte mehr gehört und mehr zu besprechen. Einmal brachte ich meinem Vater „A Love Supreme“von John Coltrane mit, damit wir es an meinem Ankunftsta­g in der Küche hören könnten. Das Album war neu aufgelegt worden, mit Demos, Outtakes und solchem Schnicksch­nack. Genau richtig für die Plattenküc­he, dachte ich. Wir hörten, aber ich spürte bald, das war es nicht, das war nicht der Ort für „A Love Supreme“, nicht die Gelegenhei­t. „Coltrane hat den Jazz kaputt gemacht“, murmelte mein Vater, als er die CD herausnahm und wieder „Kind Of Blue“einlegte. „Aber das würde ja heißen, dass die Geschichte des Jazz 1959 beendet gewesen ist“, sagte ich. Mein Vater sagte: „Ja.“

Wir hörten „Blue in Green“und tranken ein Bier, und ich fragte mich, ob ich den Jazz je würde begreifen können. Mein Vater nickte sacht im Takt der Musik und rauchte. Ich schwitzte stark und hörte das Piano und die Trompete, und was ich wusste, war, dass es für diesen Moment keine passendere Musik gab als diese. Funzellich­t, Tokio, HB.

Vielleicht kann man den Jazz gar nicht verstehen, dachte ich. Nur fühlen.

Box Großartig ist die Box „The Final Tour“, die mehrere gemeinsame Konzerte von Miles Davis und John Coltrane im Jahr 1960 dokumentie­rt. Über eine Distanz von vier CDs kann man den beiden größten Musikern des Genres zuhören. („Bootleg Series Vol. 6“, Sony)

Konzerte Bei Youtube kann man Tage verbringen und findet doch immer noch weitere tolle Live-Aufnahmen von Miles Davis. Die ersten beiden, die man sehen sollte, sind diese: 1. „Stadthalle Vienna 1973“(69 Min.). In Minute elf schaut Miles so gefährlich in die Kamera, dass das Bild kurz ausfällt. 2. „Paris 1969“(65 Min.). Chick Corea und Jack DeJohnette sitzen schon da, als Miles auf die Bühne kommt. Er wirkt wie ein Boxer, der sich warm macht. Und dann richtet er die Trompete zum Himmel und bläst die Wolken weg.

Doku Zum Jubiläum von „Kind Of Blue“hat Sony eine kleine Doku ins Netz gestellt. Man findet sie, wenn man „Miles Davis Kind Anniversar­y“bei Youtube eingibt. Leute wie Herbie Hancock und Ron Carter erzählen, warum diese Platte der Gral ist. Sie haben alle recht.

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