Kampf gegen die Angst
Weil die aktuelle Bedrohung durch das Virus unsichtbar ist, fühlen sich viele Menschen ohnmächtig. Der Psychologe Stephan Grünewald empfiehlt, sich der Angst nicht zu ergeben, sondern aktiv gegenzusteuern.
Angst, sagt man, ist zwar ein schlechter Ratgeber, sich ihr aber zu entziehen derzeit für viele Menschen äußerst schwierig. Davon zeugen beispielsweise leere Regale in den Supermärkten, verzweifelte Rufe von Firmen und Selbstständigen nach wirtschaftlichen Hilfen sowie dauerbesetzte Hotlines von Gesundheitsämtern. Es ist die Angst vor dem Coronavirus, die die Menschen umtreibt – einem Feind, der nicht nur fremd, sondern auch unsichtbar ist. „Das heißt, wir haben ständig das Gefühl, nichts machen zu können, weil wir die Bedrohung weder riechen noch sehen noch schmecken können“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts Rheingold, der in mehreren Büchern („Wie tickt Deutschland?“) versucht hat, die seelische Befindlichkeit der Deutschen zu ergründen. „Das ist für die Menschen die schlimmste Situation, weil sie sich total ohnmächtig fühlen.“
Die Strategien, aus dieser Ohnmacht herauszukommen, sind vielfältig und nicht immer sinnvoll. Es sind Versuche, auch in der Krise die eigene Handlungsfähigkeit zu beweisen, erklärt der Psychologe. Beispielsweise durch Hamsterkäufe. „Selbst wenn ich weiß, dass es keine Engpässe gibt, habe ich so wenigstens das Gefühl, ich kann etwas tun“, sagt Grünewald. Andere machten jetzt einen Frühjahrsputz, weil sie den Eindruck hätten, damit ihr Haus rein zu halten und fern von allem Unbill. Allerdings verändert sich die Situation fortwährend, was die Angst potenziert. „Die Erregung verbreitet sich schneller als der Erreger“, formuliert es Grünewald. Menschen, die normal einkaufen wollen, sehen auf einmal, dass andere im Supermarkt die Waren plündern. Und haben Angst, plötzlich selbst mit leeren Händen dazustehen.
Dass Ausnahmezustand herrscht, signalisiert auch die umfassende Berichterstattung in den Medien. Nachrichten rund um die Uhr zu konsumieren sei ein Versuch, die Bedrohung zu verstehen und die eigene Unruhe in Handlung umzusetzen, sagt der Psychologe, könne aber wieder zu neuen Unsicherheiten führen, weil selbst Experten oft keine zufriedenstellenden Antworten parat hätten. Die Formen des Umgangs mit der Krise sind auf jeden Fall zahlreich – manche junge Menschen halten sich für unverwundbar, andere empfinden die Probleme als aufgebauscht, wieder andere ergehen sich in Untergangs- oder Horrorszenarien.
Angesichts dieser Bandbreite an Reaktionen hält Grünewald es für „wichtig und richtig, dass die Politik steuernd eingreift und einen maßvollen Umgang propagiert“. Wobei sie allerdings nicht helfen kann, ist sowohl der Umgang mit den Ängsten als auch mit den Folgen der sozialen Isolation. Die Anweisung, möglichst zu Hause zu bleiben, die anfänglich auch als Urlaub vom Alltag verstanden wurde, hat sich längst, so Grünewald, für viele in einen „kollektiv verordneten Vorruhestand“verwandelt – ohne zeitliche Perspektive. Ob dieser Zustand vier Wochen oder vier Monate anhält, vermag niemand zu sagen. „Alles das, was bisher selbstverständlich war, bricht auf einmal dramatisch ab“, sagte der Experte. Das führt zu den unterschiedlichsten Formen, mit diesem Schicksal umzugehen.
Grünewald geht davon aus, dass es zwei Phasen mit unterschiedlichen Strategien der Angstabwehr geben wird. „In der ersten Phase werden die Menschen so agieren wie Ruheständler: Sie werden sich all das vornehmen, was lange liegengeblieben ist.“Wohnung aufräumen, Dokumente sortieren, Garten auf Vordermann bringen. Diese Phase werde zwei, maximal drei Wochen tragen. Danach drohe jedoch der große Lagerkoller. In dieser zweiten Phase greifen laut Grünewald wohl drei Strategien: Eine wird sein, sich via Netflix und anderen Streamingdiensten in eine Art Tagtraumblase zurückzuziehen, sich komplett abzuschotten vom Alltag. Das schaffe vordergründig Ruhe, weil die Wirklichkeit verdrängt werde. „Langfristig wird das aber zu Unruhe führen, weil diese Strategie nicht so produktiv ist“, sagt der Psychologe. Besser sei es, die kleinen Freuden des Alltags wiederzuentdecken. Etwa Wandern, Basteln, Lesen, Spielen, Gespräche mit der Familie. Als dritte Strategie empfiehlt der Experte, aus der Langeweile kreatives Kapital zu schlagen. Ideen würden dann entstehen, wenn man zur Ruhe komme, die Gedanken schweifen lasse. Grünewald: „Meine große Hoffnung besteht darin, dass wir diese Zeit nutzen, um ganz andere Erkenntnisse zu gewinnen, was uns im Leben wichtig ist und vielleicht Ideen entwickeln, wie wir Alltag, Gesellschaft und Wirtschaft umgestalten können.“
Diejenigen, die alleine zu Hause sitzen, sich um ihre Angehörigen sorgen oder deren Geschäft und damit die Lebensgrundlage bedroht ist, fällt es selbstverständlich schwer, Kraft aus der Krise zu schöpfen. Aber auch wenn diese Zeit für die meisten überschattet ist, sieht Grünewald eine Chance. „Wir Deutsche waren bisher sehr bestrebt, die Zeit anzuhalten, alles quasi in Watte zu packen und zu konservieren, nichts zu verändern“, sagt er. Nun aber seien wir dazu gezwungen, beispielsweise in der Art, wie wir zusammen arbeiten. „Wir führen in Rekordzeit eines der größten Kulturexperimente aller Zeiten durch“, sagt der Psychologe. Mit einem ungewissen Ausgang, das schon. Aber mit der Chance, Dinge auf den Prüfstand zu stellen.
Ob die Familie funktioniert, ob man mit dem Partner durch dick und dünn gehen kann, ob die Solidarität in der Firma auch in der Krise hält. „Was wir erleben, ist sicher eine sehr ernstzunehmende medizinische Bedrohungslage, aber wir haben es trotzdem in der Hand, aus diesem Schicksal etwas zu machen“, sagt Grünewald. „Nur den Kopf in den Sand zu stecken und abzuwarten, bis sich das Virus verdrückt hat, das reicht nicht aus.“
Den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis sich das Virus verdrückt hat, das reicht nicht aus