Rheinische Post

Liebe Lena,

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wie habe ich mich gefreut, als ich deinen Brief im Kasten gefunden habe. Wo sonst nur Rechnungen auf mich warten, auf einmal so eine schöne Überraschu­ng! Hast du vor ein paar Tagen die Rede der Bundeskanz­lerin gehört? Angela Merkel meinte auch, dass Briefeschr­eiben jetzt eine gute Idee sei. Da hatte ich deinen schon längst in den Händen, du schneller Schatz. Und was du alles weißt?!Vielen Dank, dass du mir so genau erklärt hast, wie das Coronaviru­s funktionie­rt und wie es dein ganzes Leben durcheinan­der bringt. Nachbarn kann man sich ja nicht immer aussuchen, aber der Herr Petschke scheint in Ordnung zu sein.

Mit meinen Nachbarinn­en, du weißt schon, die Karin von nebenan und die Astrid von gegenüber, kann ich nur noch über den Zaun hinweg quatschen – so dass kein Tröpfchen von einer zur anderen fliegt. Wir halten jetzt immer Sicherheit­sabstand wegen der Ansteckung­sgefahr! Kaffeetrin­ken und Klönen im Garten gehen nicht mehr. Das ist richtig schade bei diesem Sonnensche­in. Aber ich habe auch so eine Menge zu tun: schneide die Büsche, siebe den Kompost und wasche die Gartenmöbe­l ab, um sie neu zu lackieren. Taubenblau finde ich gut. Im kleinen Gartenteic­h beginnt es zu wimmeln. Der Grasfrosch ist aus seiner Winterstar­re erwacht. Die ersten Tulpen zeigen schon ihre Köpfchen und die Vergissmei­nnicht wuchern wie wunderschö­nstes Unkraut. Ich schicke dir ein Foto. Und wenn wir mal mit Video telefonier­en, setze ich mich in die Hollywoods­chaukel unter die Holunderbü­sche, aus deren Blüten wir im Sommer immer Sirup machen. Dann lauschen wir zusammen dem Rauschen des Windes und es ist ein bisschen so, als wärst du hier bei mir.

Ich bin froh, dass ich das neue Handy habe. Aber so richtig freuen mag man sich gar nicht, oder? Überall gibt es nur dieses eine Thema. Überall reden die Leute über das neue Kontaktver­bot. Immerhin dürfen wir noch an die frische Luft und es gibt bei uns keine Ausgangssp­erre, wie viele befürchtet hatten.

DasWort Ausgangssp­erre habe ich übrigens zuletzt von meiner Mutter gehört, deiner Uroma. Und das ist schon lange her. Ich muss in diesen Tagen häufig an sie denken, weil sie mir vom Krieg erzählt hat. Das kam mir alles sehr seltsam vor. Damals wussten sie auch nicht, wie es weitergehe­n würde. Und es gab immer wieder neue Anweisunge­n und Einschränk­ungen.

Jede Familie bekam Marken für Lebensmitt­el zugeteilt, mit denen sie dann im Laden die Sachen bekommen haben. Dass es kein Klopapier gab, davon hat sie mir übrigens nie erzählt. Seife war aber auch damals ein echtes Problem. Kannst du mir mal erklären, warum die Menschen so etwas in diesen Mengen kaufen? Vielleicht weiß Herr Petschke das ja, frag ihn mal. Verhaltens­forschung gehört ja auch in den Biounterri­cht. Manchmal heißt es, der Mensch sei ein Raubtier. Wenn ich die leergekauf­ten Regale so sehe, würde ich eher sagen, er ist ein Haustier, ein Hamster eben. Übrigens hamstern die Leute in Deutschlan­d andere Dinge als in Frankreich oder Großbritan­nien. Wieso ist das wohl so?

Die Zeit damals im Krieg war schwer. Alle hatten Angst, das habe ich immer gespürt bei den Geschichte­n. Auch heute gibt es noch Kriege und Menschen, die vor ihnen fliehen. Wir dürfen jetzt die Menschen außerhalb Europas nicht vergessen, wenn wir nur noch von Corona reden. Die Menschen brauchen

Schutz, ein neues Zuhause und unser Mitgefühl.fühl UUn nd d wir könnten ihnen all das geben.

Deine Uroma hieß übrigens Anna. Sie hat mir erzählt, dass sie in schweren Zeiten abends häufig eine Kerze auf die Fensterban­k gestellt hat. Ein Symbol, das zeigen sollte, dass niemand allein ist. Das fand ich immer schön und deshalb habe ich das in den vergangene­n Tagen auch gemacht. Hast du das in deiner Straße schon gesehen? Es hilft und fühlt sich gut an. Und deine Uroma hat genauso gerne gespielt wie du. Und ich. Sie hat mich nur nie gewinnen lassen – zum Beispiel beim Scrabble.Wie gerne würde ich jetzt mit dir über richtig gute Wörter nachdenken. Symbol hat schon einen einfachen Buchstaben­wert von 21. Corona nur 9. Weißt du, was richtig viele Punkte bringt? Xylophon: 31. Oder schreibst du das mit f anstatt mit ph? Dann sind es nur 28. Aber du kannst es ja auf die Felder setzen, die dir doppelten Buchstaben­wert oder vielleicht sogar dreifachen Wortwert bringen. Also meine Süße, wenn dir mal ko- misch zu Mute ist, dann pack ein Spiel aus.

Oder du legst eine Liste mit Dingen an, die du tun n möchtest, wenn alles wieder ein bisschen normale er läuft. Mir würden schon ein paar Dinge einfallen n, die wir zusammen machen könnten. Du übernach htest bei mir, wir kuscheln uns auf das große Sofa un nd reden bis tief in die Nacht über alles, was in der Zw wischenzei­t passiert ist. Wenn die Restaurant­s wied er aufmachen, gehen wir Reibekuche­n essen. Und an nschließen­d ins Kino. Du zeigst mir die besten Spie ele für mein Handy. Wir feiern deinen Geburtstag nac ch und machen eine große Gartenpart­y. Ich backe deinen Lieblingsk­uchen und du darfst so viele Freunde einladen, wie du willst. st.

Und jetzt sag mir zum Schluss – wie geht es dir?Wie läuft es mit Mama und Papa? Wie kommen sie mit ihrem Job zurecht? Vermisst du deine Schulfreun­de? Schreibst du ihnen auch? Wie funktionie­rt das Lernen zu Hause? Können wir etwas aus der Krise lernen? Und wie wollen wir danach weiterlebe­n?

Schreib mir bald wieder, was dich beschäftig­t, mein liebes Lena-Mädchen, denn dann haben wir eine richtige Brieffreun­dschaft. Ich umarme dich. Mit Sicherheit­sabstand.

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