Trost bei Bach
Bachs Passionen sind grandiose Vertonungen der Leidensgeschichte. Jetzt gibt es vier Neuaufnahmen. Auf zweien singt Dorothee Mields aus Dinslaken.
DÜSSELDORF Es gibt Leute, die brauchen sie wie Nahrung – ohne Bachs Passionen erreichen sie Ostern nur mit Mühe. Diese Leute sind wie der Simon von Cyrene der Passionsgeschichte, sie wollen Jesu Weg noch einmal nachgehen, der ihn nach Golgotha führte, unter der Wucht der Musik wollen sie die Wucht des Todes spüren. Und durch den Trost der Arien und durch dasWir-Gefühl der Choräle wollen sie die Dimension der Hoffnung ahnen.
Das hat sich über die Jahrhunderte nicht verändert. Die Welt eilt, Bach bleibt. Und bis heute sind die „Matthäus-Passion“und die„Johannes-Passion“unerreicht in ihrer Tiefe, zugleich von einer Frische, die von grenzenloser Haltbarkeit kündet. Das liegt auch an Bachs unermesslicher Phantasie und seiner Gabe, sich von Texten inspirieren zu lassen. Oft begegnen wir wahren Metaphern-Dschungeln, in denen sich damals die gebildeten Zeitgenossen freilich nie verirrten.
„Himmelsschlüsselblumen“(im Arioso „Betrachte, meine Seel“der „Johannes-Passion“) pflückte der Leipziger Gottesdienstbesucher von damals ohne Probleme. Unser Vorteil von heute: Wir können die Noten sehen und die Tatsache, dass bei „Himmel“die Bassstimme das Notensystem nach oben übersteigt. Das ist im Moment der Musik theologisch gedacht: göttliche Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus, der vom Himmel auf die Erde kam und in den Himmel zurückkehren wird.
Jetzt gibt es auf einen Schlag je zwei hochrangige Neuaufnahmen der beiden Passionen. Die besten Kräfte sind versammelt, sie kommen aus Tokio, Stuttgart, Antwerpen und Genf, namhafte Chorleiter wie Hans-Christoph Rademann, Philippe Herreweghe oder Masaaki Suzuki versammeln ihre Elite-Einheiten. Nie sind das Muskelchöre, nie Brüllsektionen, sondern leicht und sanglich schwingende, erlesen phrasierende Truppen, die sogar das Absprechen von Konsonanten zelebrieren. Immer sind diese modernen Chöre eine Task Force, die auf schnellen Zugriff dressiert sind. Der ist auch nötig: In der dramatischen, aber kürzeren „Johannes-Passion“(knapp zwei Stunden) mit ihren erregten Volkschören, mit ihrem oft abrupten Wechsel von Farbe und Licht kommt es tatsächlich zu Thriller-Strukturen.
Für Neulinge ist die „Matthäus-Passion“dagegen ein langes Lied, mehr als drei Stunden unaufhaltsamer Weg zum Kreuzestod – wenn Bach nicht so schön und sogar süß wäre, müsste man von einer Bußübung sprechen. Umso wichtiger ist, dass man einen exzellenten Erzähler hat, der einen als Tenor durch das Evangelium begleitet.
Masaaki Suzuki und das großartige Bach-Collegium Japan haben den jungen Evangelisten Benjamin Bruns, der mit erstaunlicher Wendigkeit und wunderschönem Timbre Bericht erstattet, ohne auch nur eine Sekunde in Weinerlichkeit abzugleiten. Leider lässt sich ausgerechnet Altmeister Suzuki dazu hinreißen, in den fast objektiven Chorälen, in denen die imaginäre Gemeinde ihre Kirchenlieder singt, interpretatorisch rumzufummeln. Einmal heißt es: „Du bist ja nicht ein Sünder“– sein Chor muss das im Staccato, also mit seltsamem Gehüpfe, singen. Befremdlich!
Solche Eskapaden leistet sich Stephan Macleod in Genf nicht. Mit Chor und Orchester der Gli Angeli Genève vertritt er Bach mit traditioneller, aber keine Sekunde langweiliger Gesinnung. In dem nicht minder famosen Werner Güra hat Macleod den Typ des wissenden Evangelisten, der das Ende der Geschichte kennt, das aber nicht musterschülerhaft durchklingen lässt. Und wer von Dorothee Mields` Arien nicht erreicht wird, dessen Herz ist wohl bereits ins Stadium der Versteinerung getreten. So schön, so innig, so kostbar wie die Künstlerin aus Dinslaken singen die Sopranarien nur wenige Kolleginnen auf der Welt.
Suzuki und Macleod operieren mit Mini-Chören, mit drei, vier Leuten pro Stimmgruppe. Das bedeutet bei der doppelchörigen „Matthäus-Passion“, dass nur knapp 30 Leute auf dem Chorpodest stehen. Früher, als es noch keine historisch informierte Aufführungspraxis gab, waren es oft 120 oder mehr. Nicht selten singen in den modernen Chören die Gesangssolisten mit. Bei Bach war es nicht anders.
Die „Matthäus-Passion“bietet eine Fülle an epischer Betrachtung, an Ausführlichkeit. Sie erzählt
gleichsam in barockem Cinemascope. Die „Johannes-Passion“dagegen hat keine lineare Mitte, sie ist viel theologischer, nachdenklicher, auch extremer. Einen so vergeistigten Choral wie„Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“mit seiner aufreizend-spirituellen Chromatik findet man in der „Matthäus-Passion“nicht. Sie hingegen birgt den kurzen„Wahrlich“-Chorsatz, in dem die Welt nach Jesu Tod in erkennendem Schrecken den Atem anhält.
Nicht immer glücklich wird man mit Hans-Christoph Rademanns Einspielung der „Johannes-Passion“. Ihre Natürlichkeit schlägt irgendwann in Unverbindlichkeit um, und der Altus von Benno Schachtner ist in seiner wummernden Diktion nicht leicht zu ertragen. In Philippe Herreweghes Neuaufnahme des Werkes kommen die prismatischen Brechungen, die sich aus seiner Lektüre des Evangeliums ergeben, viel besser heraus. Doch geht auch er neue Wege, und die führen ihn zu Manierismen. Die Choräle nutzt er ebenfalls, um sie expressiv zu personalisieren. Leider ist Maximilian Schmitt der schwächste Evangelist: zu viel Vibrato, zu wenig Kontur.
Zum Glück singt Mields auch hier mit. Wenn sie das „Zerfließe, mein Herze“anstimmt, tritt der Tod uns nahe. Theologisch aber birgt er die Erlösung derWelt. Bachs Musik ahnt das – sie weint und tröstet zugleich.