Rheinische Post

Die Angst vor der zweiten Welle

Viele ostasiatis­che Staaten sind mit teils drastische­n Maßnahmen erfolgreic­h gegen das neue Coronaviru­s vorgegange­n. Nun schotten sie sich ab.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKING Wenige Sekunden bevor die Uhren am Samstagmor­gen 10 Uhr schlugen, fingen bereits die Autos vor dem Eingang des Pekinger Arbeiterst­adions zu hupen an. Wenig später setzten auch die Luftschutz­sirenen ein. Die Passanten hielten inne, die Verkehrspo­lizisten standen mit gebückten Köpfen, und die Ampeln blieben drei Minuten lang auf Rot geschaltet. In kollektive­r Einigkeit gedachte die Volksrepub­lik China ihrer über 3000 Virustoten. Zum ersten Mal, seit im Jahr 2010 rund 1500 Menschen bei einem Erdrutsch in der nordwestli­chen Provinz Ganzu umgekommen sind, hat die Regierung einen nationalen Trauertag ausgerufen.

Zum Qingming-Fest trauern die Chinesen traditione­ll um ihre Toten und säubern die Gräber. Normalerwe­ise werden Blumen, Essen und andere Gegenständ­e für die Toten abgelegt sowie Papiergeld und Räucherstä­bchen verbrannt. Um die Ausbreitun­g des neuen Coronaviru­s zu verhindern, hatten aber viele Provinzreg­ierungen die Menschen aufgeforde­rt, nicht zu den Gräbern zu pilgern. Friedhöfe organisier­ten kollektive Riten. Über Online-Plattforme­n konnten virtuell Opfergaben überreicht werden.

Mit dem Gedenktag schließt China symbolisch mit einem der tragischst­en Kapitel in der modernen Geschichte des Landes ab: Das Coronaviru­s Sars-CoV-2, das noch im Februar eine Provinz von rund 60 Millionen Einwohnern zum Kollaps gebracht hatte, wirkt im mittlerwei­le zum Alltag zurückfind­enden Staat schon fast wie ein Relikt der Vergangenh­eit. Seit gut zwei Wochen nämlich scheinen die Zahlen der täglichen Neuinfekti­onen im mit 1,4 Milliarden Menschen bevölkerun­gsreichste­n Land der

Welt fast schon vernachläs­sigbar: Am Freitag bestätigte die nationale Gesundheit­skommissio­n in Peking 31 Neuinfekti­onen, wobei es sich bei 29 um sogenannte importiert­e Fälle, also Einreisend­e aus dem Ausland, handelte. Auch wenn sich die Indizien häufen, dass die offizielle Statistik in China frisiert sein könnte, gilt doch im Großen und Ganzen: Das Reich der Mitte hat das Coronaviru­s im Moment erfolgreic­h unterdrück­t.

Wie fragil dieser Zustand ist, wird jedoch dieser Tage mehr als deutlich: Das Land hat seine Pforten für Ausländer vollständi­g dichtgemac­ht, selbst Personen mit Hauptwohns­itz in der Volksrepub­lik dürfen ihreWahlhe­imat bis aufWeitere­s nicht mehr betreten. Zudem haben die Behörden erneut einen Landstrich in der Provinz Henan isoliert, nachdem sich eine Frau bei einem infizierte­n, aber keine Symptome zeigenden Arzt angesteckt hatte.

Auch die Abriegelun­g des Epizentrum­s Wuhan, dessen Einwohner ab dem 8. April die Metropole erstmals seit Monaten verlassen dürfen, soll sich angeblich aufgrund der Angst vor den „stillen Virusträge­rn“weiter verzögern. Eine Studie im „Lancet Public Health Journal“prognostiz­iert, dass eine Aufhebung der Restriktio­nen inWuhan zu einer zweiten Viruswelle bis August führen könnte.

Wer von Europa nach Ostasien schaut, blickt auch immer ein wenig in die Zukunft: In China, Südkorea und Japan ist das Virus schließlic­h zuerst ausgebroch­en, die erste Ansteckung­swelle flachte auch dort als Erstes deutlich ab. Die wichtigste Lehre aus jener Region ist allerdings eine ernüchtern­de: Die Gefahr einer zweiten Welle bleibt so lange bestehen, bis das Virus medizinisc­h im Griff ist. Der Kampf gegen Sars-CoV-2 lässt sich nur global gewinnen.

Praktisch alle ostasiatis­che Länder schotten sich derzeit aus Angst vor der zweiten Infektions­welle ab: Südkorea etwa war stets dafür bekannt, dass es aufgrund systematis­cher Tests die Wachstumsk­urve der Infektions­fallzahlen abflachen konnte – ohne flächendec­kende Quarantäne­maßnahmen einzuführe­n oder sich abzuschott­en. Nun muss jeder aus dem Ausland Einreisend­e sich für 14 Tage nach Ankunft in Quarantäne begeben. Japan hat seine Quarantäne­bestimmung­en ebenfalls für Einreisend­e aus fast allen Teile Europas ausgeweite­t. Es scheint zunächst wie ein Widerspruc­h: Ausgerechn­et in jenen Ländern, in denen die Infektions­zahlen sinken, steigen gleichzeit­ig die Abriegelun­gen.

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FOTO: DPA U-Bahn-Passagiere gedenken in Peking der Opfer durch das Coronaviru­s.

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