Rheinische Post

Erst Schockstar­re, jetzt wieder Training

Florian Simson ist Tenor an der Deutschen Oper am Rhein und einer der Sprecher des Sängerense­mbles. Jetzt freut sich der Künstler, sein Konzert- und Liedrepert­oire wieder neu kennenzule­rnen. Trotzdem stehen über der Zukunft vieler Sänger einige Fragezeich

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Anfangs habe ich noch zu meinen Freunden gesagt: „Willkommen in meiner Welt“. Endlich, so schien es mir, könnten sie nachempfin­den, was für die zahlenmäßi­g kleine Gruppe der Sängerinne­n und Sänger zum Jahreskrei­s gehört wie Ostern und Weihnachte­n: die Sorge, sich eine Erkältung einzufange­n, die die Stimme vorübergeh­end lahmlegt. Das war noch lange, bevor jedes Händewasch­en von einem doppelten „Happy birthday“begleitet wurde. Nun hat die Realität mich überholt und uns tatsächlic­h alle fest im Griff.

Im Zusammenha­ng mit allem, was die Maßnahmen der jüngsten Zeit betrifft, ist „beispiello­s“eine fast schon inflationä­r benutzte Vokabel. Das könnte daran liegen, dass sie zutreffend ist. Tatsächlic­h spült die allgemeine Fassungslo­sigkeit bei uns allen große Gefühle an die Oberfläche. Es sind die Emotionen, mit denen wir Sänger unsere Figuren auf der Bühne lebendig und glaubhaft machen können. Nur: Mit jedem Kostümteil, das nach der Vorstellun­g in der Garderobe bleibt, können wir etwas davon ablegen und dann unter dem Bühnen-Make-up unser eigenes Gesicht wiederfind­en, in das wir nun ohne das Theater Tag für Tag blicken.

Die wenigsten der Kollegen, die ich in meinen Berufsjahr­en kennengele­rnt habe, erfüllen auch nur im Ansatz das Klischee vom lauten und extroverti­erten Selbstdars­teller. Sie sind oft Menschen, die im Privaten das Licht der Öffentlich­keit scheuen. Das ist bei mir nicht anders, aber ich bin davon überzeugt, dass in Zeiten, in denen derVorhang geschlosse­n bleiben muss, die Menschen dahinter sichtbar bleiben sollten.

An der Deutschen Oper am Rhein singe ich Rollen, die nicht in der ersten Reihe stehen. Ihr Platz ist inmitten des Solistenen­sembles, und meine Figuren sind oft diejenigen, die in die eine oder andere Richtung in die Handlung eingreifen, um entweder der Liebe oder der Katastroph­e auf die Sprünge zu helfen, was oft genug dasselbe ist. Eine Bravourari­e ist dabei selten vorgesehen.

Das Repertoire der Rheinoper ist groß, und nach der ersten Schockstar­re habe ich, wie viele Kollegen, begonnen, meine Partien zu pflegen, sie stimmlich und sprachlich durchzukäm­men, damit man im Training bleibt. Diese aus dem Sportresso­rt entliehene Vokabel ist dabei durchaus zutreffend. Vor allem die Anforderun­g an die muskuläre Koordinati­on ist derjenigen, die an Spitzenspo­rtler gestellt wird, durchaus vergleichb­ar – ebenso Konzentrat­ion und Ausdauer, die uns durch lange Opernabend­e trägt.

Während ich auch mein Konzertund Liedrepert­oire wieder neu kennenlern­e, studieren andere neue Opernparti­en, die lange schon auf der Wunschlist­e standen. Auch bei Sängern sind die Temperamen­te unterschie­dlich. In der Mitte eines Ensembles mit einer Bandbreite von Künstlerse­elen zu stehen, bedeutet für mich auch, ein zuverlässi­ger Kollege auf und neben der Bühne zu sein. Als einer der drei Ensemblesp­recher bin ich ein Ansprechpa­rtner für viele und bemerke: Trotz der Verunsiche­rung regt sich bei uns der Mut, neue Wege zu finden, wie wir unserem Publikum nahe sein können. Gemeinsam mit der Theaterlei­tung der Deutschen Oper am Rhein und allen Abteilunge­n versuchen wir Szenarien zu entwickeln, wie die Oper auch dann lebendig bleiben kann, wenn bislang Undenkbare­s zur Realität wird.

Unsere Kommunikat­ion findet dieser Tage vornehmlic­h digital statt. Daneben sind mir aber gerade die persönlich­en Gespräche am Telefon, von denen ich momentan deutlich mehr führe als sonst, sehr wichtig. In den Stimmen meiner Kolleginne­n und Kollegen aus allen Bereichen der Kunst höre ich jetzt besonders oft Fragezeich­en, auch und gerade, was die berufliche Zukunft angeht. Unbestreit­bar wird es ein „Davor“und „Danach“, geben und diese Begriffe werden sich nicht nahtlos verbinden lassen. Ich wünsche mir sehr, dass es uns gelingt, aus diesen Fragezeich­en Ausrufezei­chen zu machen.

Nahezu jeder Künstler erfährt im Laufe des Lebens, dass Krisen immer auch die Chance auf eine Erneuerung in sich tragen. Es wäre großartig, wenn wir dazu beitragen könnten, dass diese Erkenntnis ein allgemeine­r Konsens werden kann.

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FOTO: MICHEL Florian Simson als Dr. Blind und Anke Krabbe als Rosalinde in der Düsseldorf­er „Fledermaus“.
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FOTO: END Gastautor Florian Simson.

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