Rheinische Post

Als Joseph Beuys einmal zwölf Minuten in die Linse starrte

Videokunst daheim am Bildschirm: Die Julia-Stoschek-Collection stellt ihre Sammlung schrittwei­se online. Jetzt ist Lutz Mommartz dabei.

- VON CLEMENS HENLE

Allerorts sind derzeit die Museen geschlosse­n. Für viele Kunstfreun­de ist dies eine harte Zeit, so ganz ohne den lebenswich­tigen Kunstgenus­s. Zum Glück gibt es jedoch immer mehr Museen, die ihre Sammlungsb­estände online stellen. So kann man virtuelle Rundgänge durch die großen Museen der Welt unternehme­n. Doch vor allem der Malerei fehlt am Bildschirm Aura, Firnis und Unmittelba­rkeit. Ganz anders ist das mit der Videokunst. Auch zu Hause auf dem Fernseher oder dem Computer kann sie einen mächtigen Sog entfalten und zu wahren und freudigen Kunsterleb­nissen führen. Zum Glück stellt die Stoschek-Collection nun ihre Sammlung sukzessive online. Was derzeit noch eine überschaub­are Anzahl an Videos ist, soll in den kommenden Wochen zu einem allgemeine­n Überblick über die Videokunst werden.

Schon jetzt kann man aber zum Beispiel in der wunderbare­n Arbeit „Soziale Plastik“von Lutz Mommartz dem großen Joseph Beuys von daheim aus tief in die Augen sehen. Entstanden ist die Arbeit 1967, einer Zeit, als es die Zuschreibu­ng „Videokunst“noch nicht mal gab. Beuys bekam damals von Mommartz lediglich den Auftrag, „sich dem anonymen Zuschauer gegenüber zu verhalten“. So schaut er rund zwölf Minuten lang direkt in die Kamera und durchbrich­t damit die vierte Wand. Fast regungslos und durchdring­end starrt Beuys in die Linse.

Dadurch wird das Video zu einer fordernden Aufgabe für den Zuschauer, der man sich aber trotzdem nicht entziehen kann. Denn Beuys ist nicht emotionslo­s. Ganz im Gegenteil kann man seine wässrigen Augen ausmachen. Immer wieder schluckt er, als ob er ein Weinen unterdrück­en wolle, oder atmet tief ein. Dazu trägt er seine Markenzeic­hen den Stetson-Hut und die Fischerwes­te, ohne die man sich Beuys nicht vorstellen kann. Besonders interessan­t ist das Video, weil man Beuys, der sein öffentlich­es Bild sorgsam pflegte, hier einmal sehr nahe zu kommen scheint.

Völlig improvisie­rt wirkt dagegen das Video „Peas“von Wolfgang Tillmanns. Rund drei Minuten filmt die Kamera einen Kochtopf mit Erbsen. Das aufwallend­e Wasser sorgt für eine optische Täuschung: Es scheint als zoome die Kamera stetig vom Topf weg, obwohl sie immer statisch bleibt. Der Ausschnitt, die Geräusche und der im Hintergrun­d laufende Fernseher zeugen dabei davon, wie spontan das Video gedreht wurde. Denn nur die optische Täuschung steht inVordergr­und. Und zeigen, welch begnadetes Auge der Fotograf Tillmans hat. Als sich dieWogen desWassers langsam glätten, wird die Stimme eines amerikanis­chen TV-Predigers immer dominanter. „You are never in danger!“skandiert er. Einerseits ein Fingerzeig des offen homosexuel­l lebenden und HIV-positiven Tillmans auf religiöse Engstirnig­keit und Intoleranz. Anderersei­ts erinnert die Stimme aber auch an den „Preacher House“, eine Unterart der House-Musik, mit deren Kultur sich der gebürtige Remscheide­r seit den 80er Jahren künstleris­ch und chronistis­ch auseinande­r setzt.

Der Düsseldorf­er Künstler Manuel Graf verbindet in „1000 Jahre sind ein Tag“die Ästhetik von Computersp­ielen mit der Melancholi­e der Postmodern­e.Während ein Edit des gleichnami­gen Liedes von Udo Jürgens erklingt, drehen sich auf dem Schallplat­tenspieler ruinenhaft­e Architektu­rmodelle vom antiken Tempel bis zum postmodern­en Bürokomple­x „Neues Atrium“an der Grafenberg­er Allee. Daneben wirft die psychedeli­sche Traummasch­ine von Brion Gysin pyramidenf­örmige Schatten an die Wände von Frank Lloyd Wrights „Playroom“in Oak Park. Zum Schluss fährt die Kamera über den am Computer nachgebaut­en Bertha-von-Suttner-Platz. Menschenle­er ist der sonst so bevölkerte Platz und erinnert an die EgoShooter-Perspektiv­e vonVideosp­ielen. So schlägt Graf gekonnt den medialen Bogen von der Architektu­r zur Alltagskul­tur der Jugend.

Eine Vorreiteri­n des lesbischen Films ist die im vergangene­n Jahr verstorben­e Barbara Hammer. Das 14-minütige Video „Double Strength“ist eine poetische Studie über die verschiede­nen Stadien ihrer Liebesbezi­ehung zur Choreograf­in und Trapez-Künstlerin Terry Sandgreff. In einer Montage aus Filmaussch­nitten, in denen beide Frauen nackt am Trapez hängen, sowie privaten Fotografie­n erzählt der Film von den intensiven Anfängen über die Entfremdun­g bis zum Ende der Liebesbezi­ehung. Durch Schnitt, Thematik und die Erzählung aus dem Off ist „Double Strength“ein fasziniere­nder und packender Film, der starke narrative Züge trägt.

Das Online-Angebot der Stoschek-Collection wird nun fast täglich ausgeweite­t. Denn während höchstens zehn Prozent der Sammlung in Düsseldorf und Berlin gezeigt werden, kann online die gesamte Sammlung zugänglich gemacht werden. Und erfüllt die Zeit der Corona-Krise mit Videokunst.

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FOTO: JSC Joseph Beuys in Lutz Mommartz' „Sozialer Plastik“(16-mm-Film, transferie­rt auf Video).

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