„Man hat das Gesetz etwas überstrapaziert“
Der Rechtsphilosoph über den Staat und die Einschränkungen der Freiheit während der Pandemie – und über Gottesdienste an Ostern.
Herr Professor Dreier, Sie lehren an der Universität Würzburg. Mussten Sie Ihren Studenten schon erläutern, warum sie sich nicht mehr alleine auf eine Bank setzen dürfen, um ein Buch zu lesen?
DREIER Weil man die Wohnung in Bayern nur noch mit triftigem Grund verlassen darf?
Genau.
DREIER Nein, das ist mir noch nicht begegnet. Wenn ein Student sich mit einem Buch – womöglich mit einem, das ich ihm empfohlen habe – allein auf eine Bank setzt, kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Polizist ihn wegschickt. Das käme mir absurd vor.
Das soll schon vorgekommen sein, eventuell aber mit anderer Lektüre.
DREIER Das Ziel ist doch, Kontakte zu minimieren, deshalb leuchtet mir eine solche Maßnahme nicht ein. Aber natürlich ist die Rechtslage derzeit sehr dynamisch. Man kommt kaum hinterher, die Entwicklungen nachzuvollziehen.Vom Nachdenken mal ganz abgesehen.
Fest steht Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes. Darin heißt es, die Behörde trifft die „notwendigen Maßnahmen“, um die Verbreitung der Krankheit zu verhindern. Das klingt nach einer Generalvollmacht.
DREIER Mein Eindruck war, dass man das Infektionsschutzgesetz anfangs vielleicht etwas überstrapaziert hat. Mittlerweile wurde es immerhin präzisiert. Von außen betrachtet kommt es mir aber seltsam vor, Grundrechtseingriffe von bisher unbekannterTragweite und Dimension auf eine Norm zu stützen, die ihrer Genese nach eher punktuelle Seuchen im Blick hatte.
Zum Beispiel?
DREIER Mir scheint, das Gesetz war ursprünglich eher auf Fälle wie die einer verseuchten Kuhherde im Allgäu zugeschnitten. In der Not hat man nun eben die Norm gewählt, die am ehesten passt. Ich will die Maßnahmen keineswegs kritisieren. Aber der derzeitige außergewöhnliche nationale Zustand, um den unzutreffenden Begriff „Ausnahmezustand“bewusst zu vermeiden, steht zum Infektionsschutzgesetz in einem gewissen Missverhältnis.
Das bedeutet?
DREIER Das heißt nicht, dass die Maßnahmen verfassungswidrig wären. Aber vielleicht sollte man nach Überwindung der Krise einmal in Ruhe über die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage nachdenken, die den gewaltigen Dimensionen der Krisenbekämpfung eher gerecht wird. So bleibt ein gewisses Unbehagen. Aber das lässt sich vom Schreibtisch aus natürlich bequem und leicht sagen.
Die Einschränkungen betreffen die Bereiche Religion, Beruf, Freizeit.
DREIER Ja, und das sind noch nicht alle, wenn Sie an die Einschränkung der Freizügigkeit sowie Versammlungs- und Veranstaltungsverbote denken. Mir gehen vor allem die Kirchen durch den Kopf. Zum ersten Mal seit Menschengedenken wird es keine Ostergottesdienste geben.Warum kann man Gottesdienste nicht so organisieren wie Plenarsitzungen im bayerischen Landtag oder im Berliner Reichstagsgebäude oder bei Pressekonferenzen? So voll sind unsere Gotteshäuser ja in der Regel nun auch wieder nicht. Man könnte doch sagen: Zwei Meter Abstand, jede zweite und dritte Bankreihe bleibt leer und niemand kommt noch dazu, wenn die Kapazität erschöpft ist. Die Kirchen könnten ja zum Ausgleich mehr Gottesdienste als sonst anbieten. Die Gottesdienste aber überall pauschal zu verbieten, halte ich für sehr problematisch. Das hat mich doch etwas schockiert, zumal sich gerade in dieser dramatischen Lage viele Menschen nach seelischer Erbauung und geistlichem Zuspruch sehnen dürften. Online-Gottesdienste sind kein wirklicher Ersatz.
Manches erscheint willkürlich. Blumenläden dürfen in NRW öffnen, Buchhandlungen nicht.
DREIER Das erschließt sich mir ebenfalls nicht. Beim Metzger oder bei der Post funktioniert es doch auch, dass immer nur wenige Personen den Raum betreten und die anderen vor derTür mit zwei Meter Abstand warten.Warum soll das in Buchhandlungen nicht möglich sein? Ich glaube, wir müssen alsbald darüber nachdenken, ob wir an manchen Stellen das eine oder andere Verbot etwas lockern können. Dass man im ersten Zugriff recht pauschal vorgegangen ist, halte ich für absolut verständlich, aber nun sollte man nach sinnvollen Differenzierungen und möglichen Erleichterungen fragen – ohne das Schutzziel aus den Augen zu verlieren.
Warum ist das wichtig?
DREIER Weil insbesondere die Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen schlimme negative Folgen zeitigen. Denken Sie nur an die offenbar eklatante Zunahme häuslicher Gewalt. Auch gibt es begründete Befürchtungen, dass die Suizidrate steigen wird. Viele und wohl gerade ältere Personen geraten in eine schrecklich belastende Isolation. Die Konzentration des medizinischen Versorgungssystems auf die Corona-Krise kann auch dazu führen, dass die medizinische Betreuung anderer Bereiche leidet. Bei alledem reden wir noch gar nicht von den mittelfristigen ökonomischen Folgen, die uns alle mit großer Härte treffen werden – wobei ich mich ausdrücklich dagegen wehre, medizinische Versorgung gegen „die“Wirtschaft auszuspielen, wie das manchmal geschieht. Also mit einemWort: Die ergriffenen Maßnahmen verfolgen einen absolut einleuchtenden Zweck, doch haben sie auch nicht-intendierte, negative Nebenfolgen.
Die Maßnahmen werden damit begründet, möglichst viele Leben retten zu wollen. Sonst handelt der Staat nicht derart konsequent, wenn man an 25.000 Grippetote 2017/2018 denkt, an den Straßenverkehr oder an die Organspende, die nicht verpflichtend ist, aber Leben retten könnte. Was ist anders?
DREIER Meine Erklärung wäre: Wir fürchten uns sehr viel stärker vor dem Neuen und dem Unbekannten als vor Gefahrenquellen, die uns geläufig sind. Die Pandemie ist in ihrer Auswirkung noch nicht abschätzbar, die Grippetoten hingegen tauchen jährlich mit ungefähr gleichen Zahlen in der Statistik auf. Ganz rational ist das natürlich nicht, aber menschlich absolut verständlich.
Geht es denn verfassungsrechtlich auch um die Zahl der Toten?
DREIER Das ist eine sehr schwierige Frage. Der Staat hat eine Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung, das ist völlig klar. Wie, mit welchen Prioritäten und in welchem Umfang er dieser Pflicht nachkommt, dafür steht ihm ein großer Einschätzungsund Gestaltungsspielraum zu. Und was die von Ihnen genannten Zahlen betrifft: Wenn wir schon jetzt genau wüssten, dass Covid-19 nicht mehr Opfer verlangen würde als eine normale Grippewelle, würden wir uns vielleicht beruhigen. Aber die Unsicherheit ist eben zu groß.
Hätten es etwas gebracht, wenn die Parlamente den Regelungen zugestimmt hätten?
DREIER Hier muss man unterscheiden. Dem seit vielen Jahren geltenden Infektionsschutzgesetz musste und konnte das Parlament ja jetzt nicht mehr oder nochmals zustimmen. Die vor wenigen Tagen erfolgte Änderung des Infektionsschutzgesetzes wiederum hat es in einer sehr außergewöhnlichen Sitzung beschlossen. Die konkreten Maßnahmen sind von der Exekutive, also den Regierungen und Behörden der Länder, auf gesetzlicher Grundlage ergriffen worden, wie das in unserem föderalen Rechtsstaat geboten ist.
Es gäbe andere Möglichkeiten.
DREIER Sie meinen vielleicht: Die Parlamente hätten vielleicht als Forum der Nation noch etwas sichtbarer und deutlicher die Sachlage diskutieren und der Bevölkerung ihre möglicherweise auch kontroverse Sicht der Dinge vermitteln können. Man hat manchmal den Eindruck, dass diese Aufgabe mittlerweile annähernd
vollständig auf die Talkshows übergegangen ist. Ich sehe das mit Unbehagen, weil die öffentliche Erörterung der die Nation bewegenden Fragen originäre Aufgabe des Parlaments ist. Es ist nicht nur dazu da, Gesetze zu erlassen, und schon gar nicht, sie nur abzunicken.
Nach der Novelle des Infektionsschutzgesetzes liegt alle Macht beim Bundesgesundheitsminister.
DREIER Sie sprechen hier eine sehr bedenkliche Bestimmung an. Das einzig Gute an ihr: Sie ist auf ein Jahr befristet. Aber das ändert nichts daran, dass die Verordnungsermächtigungen, die man dem Gesundheitsministerium eingeräumt hat, verfassungswidrig sind. Die hier vorgesehenen gesetzesdurchbrechenden Rechtsverordnungen sind unserer Verfassung fremd. Das ist ein klarer Verstoß gegen Artikel 80 des Grundgesetzes.
Ist der Rechtsstaat bedroht?
DREIER Abgesehen von der ungeheuren Breite und Tiefe der Grundrechtseinschränkungen, die allerdings befristet sind, habe ich den Eindruck, dass man versucht, rechtsstaatliche und demokratische Standards zu wahren. Es ist ja gerade nicht das geschehen, was typisch für den klassischen Ausnahmezustand ist: außerordentliche Kompetenzen für die Exekutive, Ausschaltung des Parlaments, Aufhebung gerichtlicher Kontrolle. Wenn manche im Feuilleton raunen, wir wären auf dem Weg in den totalitären Hygienestaat, dann halte ich das für maßlos übertrieben. Das ist der wohlige Grusel, den einige Intellektuelle verspüren, wenn das Wort „Krise“fällt. Ich teile diese Befürchtungen nicht.