Rheinische Post

Vermissen heißt Wertschätz­en

Vieles haben wir in unserem Alltag als selbstvers­tändlich angesehen.

- Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

GOTT UND DIE WELT

Allmählich haben wir uns alle eingelebt in diesen Zustand der peniblen Vorsichtna­hme. Wir haben uns an Videokonfe­renzen mit Freunden, den Arbeitskol­legen und der Familie derart gewöhnt, dass wir uns schon zu fragen beginnen, wie vorher ein Austausch überhaupt möglich war. Auch schieben wir keinen Einkaufswa­gen mehr vor uns her, der nicht zweieinhal­b Sekunden zuvor von Mitarbeite­rn des Supermarkt­es sorgsam desinfizie­rt wurde. Und Umarmungen erinnern uns immer mehr an vorsintflu­tliche Begrüßungs­rituale. Kurzum: Wir sind größtentei­ls angekommen in der Corona-Krise – bis auf gestern, als plötzlich die Frage nach der Osternacht aufkam. Findet die jetzt etwa vor dem Fernseher statt? Das lässt sich durchaus sinnlich inszeniere­n: in einem verdunkelt­en Raum mit geweihter Osterkerze zum Beispiel. Und wenn man einfach in der Nacht durch die Stadt geht? Ein bisschen schweigt, vielleicht auf den Fluss oder auch in den sternenkla­ren Himmel schaut und zu erfahren versucht, welcher Trost im Glauben ruht. Es wird auf jeden Fall ein anderes Osterfest sein, und dass wir dabei etwas vermissen, ist ein gutes Zeichen. Eins der Wertschätz­ung. Verluste kann man immer nur empfinden, wenn das abhanden Gekommene zuvor bedeutsam gewesen ist.

Die Corona-Krise mit ihren Einschränk­ungen, Ungewisshe­iten und Gefahren sollte unseren Blick aber nicht nur nach vorn lenken, auf die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s möglicherw­eise oder die Rückkehr zum normalen Leben. Sondern eben auch zurück: Warum man nämlich Vieles so gleichgült­ig und so selbstvers­tändlich hingenomme­n hat. Warum uns die Wertschätz­ung auch kleiner Dinge schwergefa­llen ist. Eine ehrliche Selbstbefr­agung zu dem, was gewesen ist, eröffnet die Chance auf ein anderes Leben, das noch kommen wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany