Rituale helfen in der Quarantäne
Anselm Grün hat als Benediktiner Erfahrung mit einem Leben in Rückzug und Einkehr. Daraus schöpft er Kraft.
DÜSSELDORF In vielen Kindergärten beginnt der Tag mit einem Morgenkreis. Die Kinder sitzen nebeneinander, jedes wird einzeln begrüßt und darf erzählen, wie es ihm geht. Dann wird ein Lied gesungen, das Miteinander kann beginnen. Manche Kitas machen das in den Corona-Wochen auch digital möglich. Sie setzen Stofftiere als Stellvertreter in einen Kreis und rufen die Kinder über eine Telefonkonferenz zusammen. Jedes Kind wird auch über diesenWeg einzeln begrüßt und darf sagen, wie es ihm geht. Und dann kann der Tag daheim beginnen – verlässlich, jeden Morgen um die gleiche Zeit.
„Rituale geben unserem Leben Form – und halten uns in Form“
Anselm Grün Benediktiner-Pater und Autor
Nach Pater Anselm Grün sind solche Ideen ein Segen. Denn sie retten ein Ritual in die diffuse, chaotische Corona-Zeit. Rituale haben religiöse Wurzeln. Sie sind Gewohnheiten, die dem Leben Struktur geben, aber viel mehr als Routinehandlungen sind. „Rituale öffnen den Himmel über unserem Leben“, schreibt Grün in einem Buch, das er in Windeseile herausgebracht hat, um seinen Wissenschatz aus dem Klosterleben mit Menschen zu teilen, die sich von Kontaktverbot und Quarantäne-Regeln herausgefordert fühlen.
Muss das sein? Diesen Vorbehalt greift Grün in seiner Einleitung gleich auf. Für den Benediktiner lag es einfach auf der Hand, seine Erfahrungen aus dem Klosteralltag mit Menschen zu teilen, die Quarantäne oder die Zurückgezogenheit des neuen Homeoffice-Lebens als Herausforderung empfinden. Grün will die aktuelle Lage weder verharmlosen noch schönreden. Es gehe in diesen Wochen nicht um Selbster
RÄTSEL DER SPHINX fahrung, dafür stehe zu viel auf dem Spiel. Doch erleben viele Leute im Moment Entschleunigung, Nähe und Distanz in Partnerschaft und Familie, Einsamkeit in den eigenen vier Wänden in intesiver Form. Erfahrungen, die auch Ordensleute in ihren Gemeinschaften machen und für die sie Regeln entwickelt haben, die seit Jahrhunderten ihre Tauglichkeit beweisen. Die Regel eines durch Gebetszeiten fest strukturierten Alltags etwa. „Rituale geben uns Form – und halten uns in Form“, schreibt Grün.
Auch das Zuhausebleiben, beschränkt auf die eigenen vier Wände, findet ein Pendant im Klosterleben. Die Zelle ist Rückzugsort für Ordensleute, aber auch ein Ort, in dem sie allein sind mit sich und vor Gott. Das ist nicht immer leicht. Anselm Grün glaubt aber, dass es gut ist, wenn Menschen auch außerhalb des Klosters in ihrem Lebensumfeld Nischen finden, in denen sie still werden können. In denen sie üben können, ohne Ängste allein zu sein. In denen sie lernen, es mit sich selbst auszuhalten. Grün schreibt, dass es ein Prozess ist, die Zurückgezogenheit als Zelle des Friedens zu erleben. Er ermutigt unter den neuen Bedingungen, in die nun alle geworfen sind, die Sinne für das eigene Umfeld zu schärfen. Was macht das Leben eng? Kann ich bei mir daheim sein? Besitze ich zu viel? Es ist gerade eine gute Zeit, sich solche
Fragen zu stellen. Viele Klostererfahrungen, die Grün auf die aktuelle Lage anwendet, haben mit Anteilnahme und Aufmerksamkeit zu tun. Etwa, wenn es um das Bedürfnis von Nähe und Distanz in einer Gemeinschaft geht. Grün glaubt, dass es vor allem darum geht, das Distanzbedürfnis des Nächsten überhaupt wahrzunehmen. Denn manchmal äußert sich das nur indirekt. Erst wenn man wisse, wie viel Nähe man selbst braucht und
wie viel der andere, könne man darüber ins Gespräch kommen. Grün beschreibt dazu ein Video, das gerade zum Thema Homeoffice kursiert. In dem versteckt sich ein Vater geschickt wie ein Chamäleon vor seinem Kind. Doch sich der Nähe eines anderen durch einen Trick zu entziehen, hinterlasse nur Scham, glaubt Grün. Erwachsene müssen lernen, zu ihren Bedürfnissen zu stehen und sie in Einklang zu bringen mit denen der anderen.
Grün macht sich auch Gedanken über Gründe für den „Lagerkoller“, wie ihn Bergsteiger bisweilen erleben, wenn ein Aufstieg zum Gipfel im Nebel stecken bleibt. Es komme dann darauf an, sich einzugestehen, dass ein Traum geplatzt ist, dass ein Ziel nicht erreicht werden kann. Aber nicht, um zu resignieren, sondern um sich neue Ziele setzen zu können.
Auch über Hamsterkäufe und Solidarität hat sich Grün Gedanken gemacht. Er unterscheidet zwischen falscher, ängstlicher Sorge, die zum Beispiel dazu führt, dass man anderen die letzten Nudeln vor der Nase wegschnappt, und der Sorge um die Armen und Schwachen, die Hilfe nötig haben. Solche Überlegungen fördern kaum neue Erkenntinsse zutage, doch die gelassene, einfache Art, mit der Grün aus der Klosterzelle heraus auf die aktuelle Wirklichkeit blickt, hat etwas Heilsames. Gerade in Corona-Zeiten.