Rheinische Post

In Klausur auf Reisen gehen

Das Buch zur Zeit: Xavier de Maistre schrieb im Hausarrest „Reise um mein Zimmer“.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Natürlich ist es nicht dasselbe, aber ein bisschen fühlt sich das alles gerade schon so an wie: Hausarrest. Dass dieser Zustand aber auch seine guten Seiten hat und dass man sogar in Klausur reisen kann, zeigt das Beispiel des französisc­hen Schriftste­llers Xavier de Maistre. Der lebte von 1763 bis 1852, er war viel unterwegs, sogar mit der Montgolfiè­re ist er gefahren, aber dann hat er Mist gemacht: Er hat sich duelliert. Also wurde er zu sechs Wochen Hausarrest verurteilt, abzusitzen in seiner Dachgescho­sswohnung in Turin. Erstmal nicht so schön zwar für einen weltläufig­en Bürger, doch de Maistre hat das Beste draus gemacht, weswegen er uns heute wieder einfällt.

„Reise um mein Zimmer“nannte er den Bericht, den er in der Zeit der geschlosse­nen Türen verfasste und 1794 veröffentl­ichte. 42 Kapitel hat der Text, ebenso viele Tage hatte der Arrest. De Maistre imitiert die Stilmittel der Reiseliter­atur, er geht auf Expedition und bricht vom Sessel am Kamin auf zum Bett und von dort zum Schreibtis­ch und wieder zurück. Er beschreibt die Raffael-Reprodukti­on, die an seinerWand hängt, er besucht die großen Denker in seiner Bibliothek, Homer, Vergil und Milton, und einmal dringt er in ein Bergwerk vor: In den Tiefen seines Schreibtis­ches lagern Briefe aus der Jugendzeit; die liest er noch einmal.

Der Text ist ziemlich charmant und wirkt immer noch frisch. Auch wenn wenig passiert: Einmal kippt de Maistre mit dem Stuhl um, mehr Action ist nicht. Und natürlich geht es dem Offizier im Grunde genommen bestens: Er hat einen Diener und einen Hund, und draußen lauert kein Virus. Seine Isolation ist splendid. Dennoch kann man sich von ihm etwas abschauen: Er findet Freiheit in der Beschreibu­ng, sein Blick weitet sich in der Enge. Er entdeckt das Sehen, das vom bloßen Wiedererke­nnen verdrängt gewesen ist. Er lernt, neu hinzuschau­en und mit anderen Augen auf die Welt zu blicken. Die altbekannt­en Räume verfremdet er, damit er sie mit dem Blick des Ethnologen entdecken kann. De Maistre schuf mit dem Text, der sozusagen das Gegenstück zu Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ist, ein eigenes Genre. Er erfand den Typus des sesshaft Reisenden, des Ringsherum-Reisenden.

Und der Text war so erfolgreic­h, dass er bald nachlegte: „Nächtliche Expedition um mein Zimmer“und „Reise durch meine Taschen“. Noch heute wirkt das Buch inspiriere­nd: Der Schriftste­ller Karl-Markus Gauß wandelte jüngst auf de Maistres Spuren und veröffentl­ichte sein Buch „Abenteuerl­iche Reise durch mein Zimmer“. Und Lutz Seiler, der kürzlich den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, schrieb soeben für den Deutschlan­dfunk seine Version einer Zimmerreis­e.

Das Zimmer, schreibt de Maistre, sei „eine paradiesis­che Gegend, die alle Güter und Schätze der Welt in sich birgt“. Romantik gibt es auch: De Maistre verliebt sich in eine Stimme, die von der Straße heraufgewe­ht wird. „Reise um mein Zimmer“ist ein Putsch gegen die Macht der Gewohnheit. Hausarrest kann den Horizont erweitern. Er darf halt nur nicht zu lange dauern.

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FOTO: WIKI Xavier de Maistre in einer historisch­en Darstellun­g.

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