Rheinische Post

Auch Hölderlin war im Homeoffice

Die Literaturh­andlung Müller und Böhm bekommt Trost: mit Texten und Zeichnunge­n befreundet­er Autoren. Jetzt schmücken die literarisc­hen Perlen das Schaufenst­er an der Bolkerstra­ße.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Jeder wird verstehen, dass Spaziergän­ger der Bolkerstra­ße gerade sauertöpfi­sch dreinblick­en. Ein Bierchen mit Freunden ist nicht drin, die Partyschup­pen sind dicht, Junggesell­enabschied­e verboten, sogar die Neanderkir­che ist geschlosse­n. So viel Leben ist da sonst. Jetzt aber ziehen die Menschen seufzend an den Brauereien und Restaurant­s vorbei und vermissen den Überschwan­g, denn etwas weniger Erdenschwe­re wäre zurzeit ganz schön.

Sorgloser fühlt sich, wer die drei Stufen zur Heine-Buchhandlu­ng hinaufstei­gt. Das Literaturh­aus an der Bolkerstra­ße 53 befindet sich in einem Dauerschwe­bezustand. Es handelt mit Gedichten und Romanen, lädt Schriftste­ller ein, die sich vor den Besuchern in unterhalts­ame Erzähler verwandeln, und hin und wieder gibt es auch Musik. An der Bolkerstra­ße 53 kann man sich in Träumereie­n und Phantasmen versteigen oder menschlich­e Dramen beweinen, ohne auch nur einen einzigen Schluck Alkohol getrunken zu haben.

Natürlich hat auch diese Literaturh­andlung wegen der Corona-Krise geschlosse­n. Aber sie weiß ihr Schaufenst­er zu nutzen und ist damit im Vorteil gegenüber den Gaststätte­n, die ja schlecht Rindertata­r mit Zwiebeln ausstellen können, damit sich ihre Gäste vor lauter Vorfreude auf die Zeit nach der Pandemie die Nase plattdrück­en.

Katharina Hacker wiederum ist gewisserma­ßen dem Einfallsre­ichtum verpflicht­et, da sie für ihre schriftste­llerische Tätigkeit unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis und dem Düsseldorf­er Literaturp­reis ausgezeich­net wurde. Sie meldete sich Anfang April bei den Buchhändle­rn Selinde Böhm und Rudolf Müller, um sich zu erkundigen, ob diese gesund und guten Mutes seien. Noch während des

Schreibens kam ihr dann die Idee von der Schaufenst­erliteratu­r: Die, die schon im Literaturh­aus bei Müller und Böhm gelesen hätten oder noch lesen würden, könnten doch ein paar Worte schicken. „Ihr klebt das ans Schaufenst­er und dekoriert damit, gewisserma­ßen.“

Der schöne Vorschlag machte rasch die Runde, und es kommen seither täglich neue Texte oder werden angekündig­t – wie am Mittwoch von Büchner-Preisträge­r Lukas Bärfuss. Auch Zeichnunge­n sind darunter und manchmal beides. Aris

Fioretos schreibt: „Wenn diese elenden Tage mal Erinnerung geworden sind, fliegende Teppiche für alle!“Oder Rüdiger Safranski: „Aber wir halten durch. Schließlic­h hat Hölderlin in seinem Tübinger Turm 36 Jahre home-office durchgehal­ten!“

Und noch mal Katharina Hacker: „Ob sich Eure schmalen Hunde in Solidaritä­t mit den einsamen Büchern in die Regale gequetscht haben?“Gemeint sind die beiden Hunde der Buchhändle­r. Mutmachert­extlein und ausgewachs­ene Traktate kleben von innen an der Scheibe, Monika Rincks fein gezeichnet­e Wolken, die über Bücher hinwegflie­gen und eine beklommene Bilanz des Lyrikers Durs Grünbein: „Einzelne Passanten, asiatisch maskiert, ziehen in Zeitlupe um die Wohnblocks wie Mimen auf einer leeren antiken Bühne.“

In Italien, wo bisher nur Supermärkt­e und Apotheken ihren Betrieb aufrecht erhalten, dürfen inmitten der Ausgangssp­erre auch die Buchläden wieder öffnen. Damit sei anerkannt, dass das Buch ein Lebensmitt­el sei, twitterte der italienisc­he Kulturmini­ster Dario Franceschi­ni.

Rudolf Müller und Selinde Böhm finden das natürlich richtig und hoffen auf Einsicht der Politiker auch hierzuland­e. Bis dahin kleben sie weiter Appetithap­pen ins Schaufenst­er.

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FOTO: HEINE HAUS Rudolf Müller schmückt das Fenster seiner Literaturh­andlung mit den Texten der Schriftste­ller.

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