„Das Virus ist grausam“
Der Kanzleramtschef rät dazu, Patientenverfügungen zu verfassen, wenn man nicht beatmet werden und lieber zu Hause sterben will.
BERLIN Der Kanzleramtschef ist im Stress, er hat 30 Minuten Zeit für dieses Interview. Der gelernte Anästhesist führt es aber so, wie ihn Ministerpräsidenten und Parteichefs in Schalten beschreiben: ruhig und trotz allem gelassen.
Herr Braun, in Corona-Zeiten könnten Sie als gelernter Anästhesist zum Einsatz im Krankenhaus angefordert werden. Wie gut sind Sie darauf vorbereitet?
BRAUN Ich bin seit mittlerweile 2009 in Regierungsverantwortung. Deswegen bräuchte ich sicher einige Tage, bis ich auf einer Intensivstation wieder voll einsatzfähig wäre. Aber ich habe schon öfter gesagt:Wenn die Corona-Krise im Bundeskanzleramt überstanden wäre, dann würde ich in einem Krankenhaus helfen. Ich denke jedenfalls sehr häufig an die vielen Ärztinnen und Ärzte, besonders auf den Intensivstationen, die mit Corona-Patienten bis zum letzten Bett ausgelastet sind.
Die größten seelischen Belastungen erleiden gegenwärtig Familienangehörige von Sterbenden, weil auch sie Abstand halten müssen. Wäre es nicht christlicher, hier das Besuchsverbot zu lockern?
BRAUN Auch hier sieht man, wie grausam das Virus ist. Sterbende sind häufig hochbetagt, ihre Angehörigen teilweise auch. Man kann nur hoffen, dass im Einzelfall damit sensibel umgegangen wird. Das zeigt aber, dass eine solche Pandemie uns in viele Situationen bringt, die man nicht zufriedenstellend auflösen kann.
Also keine Lockerung des Besuchsverbotes, selbst bei Sterbenden nicht?
BRAUN Wir haben bewusst immer wieder deutlich gemacht, dass wir ältere und sehr alte Menschen besonders schützen müssen, weil sie oft sehr schnell sehr schwer erkranken. Deswegen brauchen wir gerade in Pflegeheimen, aber auch in Heimen für behinderte Menschen besonderen Schutz. Wir müssen alles tun, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, teilweise auch mit Maßnahmen, die sehr schmerzhaft sind. Die Begleitung von Sterbenden muss aber zumindest durch professionelles Personal gewährleistet sein.
Palliativmediziner raten, Patientenverfügungen für den Fall einer Covid-19-Erkrankung anzupassen, wenn man nicht auf der Intensivstation behandelt werden möchte, weil man mit dem Tod rechnet und die restliche Zeit lieber bei den Liebsten ist. Wie sehen Sie das als Mediziner?
BRAUN Eine Patientenverfügung ist immer sinnvoll, gerade bei hochbetagten und stark vorerkrankten Menschen. Und auch in dieser Corona-Krise. Beispielsweise, wenn jemand festlegen möchte, dass er im Krankenhaus nicht mehr intubiert oder beatmet werden, sondern lieber im Kreis der Familie sterben möchte. Eine Patientenverfügung kann auch verhindern, dass man Angehörige in eine Situation bringt, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen, die sie vielleicht überfordern. Es ist für alle – den Kranken, die Familie und auch die Ärzte – eine Hilfe, wenn der Wunsch für die Behandlung oder eben Nichtbehandlung schriftlich festgelegt ist. Das ist nicht immer leicht. Es gibt aber gute Berater, die beim Aufsetzen einer Patientenverfügung helfen.
Trost können die Religionsgemeinschaften spenden. Es darf aber keine Zusammenkünfte in den Gotteshäusern geben. Wird sich daran bald etwas ändern?
BRAUN Glaube und Gottesdienste sind gerade in diesen Zeiten besonders wichtig. Deswegen haben wir hier besonders lange diskutiert, was derzeit möglich ist und was nicht geht. Wir haben an der Ausbreitung des Virus etwa im Elsass gesehen, dass dort Gottesdienste, wo auch viel gesungen wurde, dasVirus katapultartig verbreitet haben. Deswegen haben wir uns hier schweren
Herzens entschlossen, die Kirchen für gemeinsame Gottesdienste vorerst nicht zu öffnen.
Wenn ein Impfstoff frühestens in etwa einem Jahr zur Verfügung steht, was heißt das für Kontaktbeschränkungen oder auch für Großveranstaltungen in dieser Zeit?
BRAUN Der Erfolg der bisherigen Maßnahmen beruht ja darauf, dass wir alle gesagt haben: Wir bleiben zu Hause! Das kann man nicht ewig durchhalten. Jetzt wollen wir schrittweise wieder zurückkommen in ein Leben mit weniger Beschränkungen. Aber die Epidemie ist nicht weg. Wir müssen lernen, damit zu leben – bis es einen Impfstoff gibt.
Also keine Fußball-Bundesligaspiele vor Zuschauern mehr bis Frühjahr 2021? Kein CDU-Bundesparteitag mit Vorstandswahl und 1001 Delegierten?
BRAUN So weit möchte ich nicht in die Zukunft gehen. Es geht um kleine Schritte und die Frage: Schaffen wir es, Regeln zu finden, wie wir auch unter akzeptablen infektiologischen Bedingungen zunächst kleinereVeranstaltungen wieder anlaufen lassen können? Und dann sehen wir weiter. Niemand kann heute seriös sagen, was in drei Monaten oder in sechs Monaten möglich sein wird.
Für wie seriös halten Sie die Heinsberg-Studie, wonach 15 Prozent der Bürger bereits Antikörper gegen das Coronavirus gebildet haben und nun immun sind und nur 0,37 Prozent der Infizierten gestorben sind – während die Johns-Hopkins-Universität für Deutschland bislang eine fünffach höhere Quote von fast zwei Prozent ermittelt hat?
BRAUN Ich kann diese Studie nicht beurteilen. Es gibt da einen Streit der Wissenschaftler. Die Politik sollte sich da nicht einmischen. Wichtig ist die Frage, die dieser Studie zugrunde liegt: Wie hoch ist die Dunkelziffer, und wie viele Menschen haben sich womöglich mit Corona infiziert, ohne dass sie es merken, weil sie gar keine Symptome, aber am Ende doch eine Immunität entwickelt haben? Um das sicher sagen zu können, setzt die Bundesregierung auf weiterentwickelte Antikörper-Tests und eine geplante großangelegte, deutschlandweite Studie zur Immunität der Bevölkerung.
Stellen Sie sich darauf ein, dass es in wenigen Wochen Beratungen über ein zweites großes schnelles Hilfspaket mit Zuschüssen für Betriebe geben muss?
BRAUN Wir sehen uns unsere Hilfsprogramme ganz genau an. Viele Branchen und Betriebe sind von der Corona-Krise schwer getroffen. Für die nächste Sitzungswoche des Bundestages erwarte ich noch keine Notwendigkeit für ein nächstes Hilfspaket. Aber wir können für die Zeit danach nicht ausschließen, dass wir mit weiteren Hilfsmaßnahmen nachsteuern müssen.
Wird es nach der Corona-Krise eine neue Normalität geben? Kein Handschlag mehr?
BRAUN Dass wir den Handschlag tatsächlich ganz aus unserem Alltag verbannen, kann ich mir nicht vorstellen. Aber es könnte doch sein, dass man den Handschlag künftig gezielter einsetzt. Vielleicht macht man in einem Raum mit 30 Personen nicht mehr die Runde wie früher, sondern grüßt allgemein in den Saal.