Der italienische Patient
Italiens Wirtschaft steht durch die Corona-Pandemie vor dem schwersten Einbruch der jüngeren Geschichte. Der kranke Mann in Rom könnte die EU in eine Existenzkrise stürzen und die politische Landschaft völlig verändern.
Es ist stets das gleiche Ritual, diesmal – in Corona-Zeiten – aber perVideokonferenz.Wenn am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) verhandeln, geht es wieder um viel Geld für die Rettung einzelner Mitgliedstaaten. Einmal mehr hält der Süden des Kontinents die Hand auf. Doch statt Griechenland, wie in der Eurokrise, ist es diesmal vor allem Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der EU.
Auch die Argumente sind stets die gleichen. Italien und Spanien, die beiden am stärksten von der Corona-Pandemie getroffenen Länder, sehen sich unverschuldet in Not und verlangen bedingungslose Solidarität, am besten über eine gemeinsame Schuldenaufnahme und Haftung in Form von europäischen Corona-Bonds. Die Länder des Nordens, vor allem die Niederlande, in gemäßigter Form auch Deutschland, bekennen sich zu Hilfen, wollen aber das Geld nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht unkontrolliert fließen lassen.
Tatsächlich steht es denkbar schlecht um den Hauptpatienten Italien. Er ist miserabler dran als alle anderen Staaten der EU, die mit den Folgen des Coronavirus kämpfen. Seit 20 Jahren ist die einstige Spitzenökonomie (zumindest was den Nordteil des Landes betrifft) nicht mehr gewachsen. Auf den Weltmärkten und im internationalen Technologiewettbewerb ist Italien entscheidend zurückgefallen. Und in diese schwache Ausgangslage brach nun das Coronavirus ein, legte die organisatorische Schwäche des im Kern gar nicht so schlechten Gesundheitssystems bloß und ist nun im Begriff, die letzten Fundamente der einst so erfolgreichen italienischen Wirtschaft wegzusprengen.
Es ist vor allem die gigantische Staatsverschuldung, Ergebnis eines heillosen politischen Verteilungskampfes, die das Land im Kampf gegen das Virus behindert. Auf 136 Prozent, also mehr als das Doppelte des von der EU erlaubtenWertes, sind die Verbindlichkeiten des Staates bis Ende 2019 gestiegen. „Das ist an sich schon eine prekäre Situation“, findet Carlo Bastasin, früherer Chefkorrespondent des Wirtschaftsblatts „Il Sole 24 Ore“und heute Ökonom der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution in Washington.
Bastasin schätzt, dass bei einem Rückgang der italienischen Wirtschaft von bis zu zehn Prozent, wie der Internationale Währungsfonds und andere Institutionen schätzen, die Verschuldung schnell bei gut 170 Prozent liegen könnte, also fast ein Drittel der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung zusätzlich. „Kommt dann ein nur leichter Zinsanstieg hinzu“, ist der Brookings-Ökonom überzeugt, „ist Italien mit keinem Geld der Welt mehr zu retten.“Es bliebe nur der Staatsbankrott – mit allen Folgen für das Land, aber auch die europäische und vor allem auch deutsche Wirtschaft.
Kurzfristig sind die EU und auch die Europäische Zentralbank (EZB) dabei ganz gut gerüstet. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat am 19. März 750 Milliarden Euro für ein Pandemie-Notprogramm zur Verfügung gestellt. 900 Milliarden Euro an zusätzlichen Staatspapieren will die europäische Notenbank allein in diesem Jahr ankaufen. Dazu kommt das Rettungspaket der EU-Finanzminister von einer halben Billion Euro, über das der Gipfel am Donnerstag berät.
„Das reicht aber nur kurzfristig“, meint der Italien-Kenner Bastasin. Selbst mit Corona-Bonds ist dem kranken Mann in Rom nicht mehr gedient. Durch den Lockdown, so Bastasin, würden rund 20 Prozent der Industrieproduktion für immer verschwinden, der Tourismus, die Autoproduktion, die Landwirtschaft sowie das Verkehrssystem würden bleibenden Schaden nehmen. Kommt es dann zu einer weiteren Abschwungdynamik, ist sogar ein Minus von 15 Prozent drin. Italien wäre auf dem Weg zu einem Schwellenland.
Der Leiter des Instituts für öffentliche Finanzen an der Leibniz-Universität Hannover, Stefan Homburg, glaubt sogar, dass die Corona-Krise der wackligen Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conti aus Linksdemokraten und Linkspopulisten in die Hände spielt. „Italien wäre ökonomisch ohnehin bald am Ende gewesen. Deshalb ist Contes Lockdown für die Regierung nützlich. Das Geld kommt jetzt von den finanzkräftigen Staaten.“
Der Finanzwissenschaftler macht Conte, aber auch den meisten anderen europäischen Regierungen den Vorwurf, Corona zunächst unterschätzt zu haben. Danach hätten sie aber völlig überzogen reagiert: „Jetzt macht die Lockdown-Politik auch den gesunden Teilen der Wirtschaft den Garaus. Interessanterweise verhängte Ministerpräsident Conte den Lockdown erst, als der Höhepunkt der Corona-Infektionen bereits überschritten war.“
Dahinter, so Wirtschaftsprofessor Homburg, könnte politisches Kalkül stecken. Homburg: „Italien war lange Zeit Schlüsselland für den Fortbestand des Euro. Doch jetzt hat sich die Lage geändert. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs verfolgen einen autoritären Ansatz, der an das chinesische Politikmodell erinnert. Damit können sie den Euro zumindest so lange stabilisieren, wie die Panik anhält.“
Ob sich die EU-Länder von solchen Überlegungen tatsächlich leiten lassen, kann mit Recht auch infrage gestellt werden. Eine Antwort auf die Heilung des Patienten Italien und die damit verbundenen Risiken haben die Europäer bislang nicht. Als sicher unter den Experten gilt, dass die bisherigen Hilfen kaum ausreichen. Einen Ausweg bietet Brookings-Experte Bastasin an. Er schlägt ein europäisches Projekt vor, das auch in Zeiten von Corona auf eine Restrukturierung des Gesundheitssystems, auf einen digitalen Aufbruch, auf Automatisierung und Internet-Sicherheit setzt. Auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Sicher gilt: Ein gesundheitlich vertretbarerWeg aus der Lockdown-Falle ist bitter nötig.
Italien ist miserabler dran als alle anderen Staaten der EU, die mit den Folgen des Coronavirus kämpfen