„Bayer war auch Heimat“
Vor 54 Jahren fing Werner Wenning als Lehrling bei Bayer an, am Dienstag tritt er als Aufsichtsratschef ab. Ein Gespräch über Kindheit, Krisen, Verantwortung.
LEVERKUSEN
Eigentlich wollten wir Werner Wenning im Büro des Aufsichtsratschefs an der Kaiser-Wilhelm-Allee treffen. Es liegt in einem Gebäude von 1912, das einst als Bayer-Zentrale diente. Wegen der Corona-Krise telefonieren wir.
Am Dienstag endet eine Ära: Auf der Hauptversammlung treten Sie ab, nach 54 Jahren unter dem Bayer-Kreuz. Was war der Konzern für Sie?
WENNING
Bayer habe ich sehr viel zu verdanken. Der Konzern hat mir die Möglichkeit gegeben, andere Länder und Kulturen sowie beeindruckende Persönlichkeiten kennenzulernen und er hat mir immer wieder neue Aufgaben mit steigenderVerantwortung anvertraut. Meine Familie steht natürlich immer an erster Stelle. Aber Bayer war auch Heimat, mein ständiger Zweitwohnsitz sozusagen.
Sie wurden Vorstands- und Aufsichtsrats-Chef. Das war nicht abzusehen, als Sie am 1. April 1966 Ihre Lehre zum Industriekaufmann begannen. Was waren damals Ihre Hoffnungen?
WENNING
Wenn man jung ist, macht man sich noch keine konkreten Gedanken darüber, wo die berufliche Reise einmal hingeht.Von dem, was mir Bayer über die vielen Jahre hinweg ermöglicht hat, habe ich damals als Lehrling jedenfalls nicht einmal annähernd zu träumen gewagt.
Ihre Mutter wollte lieber, dass Sie zum Finanzamt gehen ...
WENNING
Ja, das stimmt. MeinVater starb, als ich 14 Jahre alt war. Und Finanzbeamter galt als der krisensichere Job schlechthin. Der Junge soll was Ordentliches machen, das war ihr Wunsch.
Was bedeutet der frühe Tod Ihres Vaters für Sie?
WENNING
Das hat mich sehr geprägt. Ich musste früh Verantwortung übernehmen: Ich hatte neben der Schule einige Jobs, um die Familienkasse aufzubessern. In einem Gemüsehandel habe ich Kartoffelsäcke gepackt - immer 10 Pfund in einen Sack. Wehe, man hatte die Waage falsch eingestellt, dann konnte man von vorne beginnen. In den Schulferien habe ich auch in einem Lackbetrieb als Helfer gearbeitet.
Was war Ihre erste Arbeit als Bayer-Lehrling?
WENNING
Für alle Lehrlinge stand zunächst ein Einsatz in der Produktion an.Wir sollten das wahre Leben auch mal kennenlernen. Mein erster Einsatz ging in die Lederchemie. Hier mussten ich Felle mit Chemikalien reinigen und mit einem Rundmesser bearbeiten...
Und Sie hatten zwei linke Hände?
WENNING
Nein, nein. Ich kann schon Nägel in die Wand schlagen. Aber wenn man sich ungeschickt anstellte, bekam das Leder Löcher. Das sahen die Vorarbeiter natürlich gar nicht gerne.
Sie wurden ohne Abitur und Studium Vorstandschef. Wäre eine solche Karriere heute noch möglich?
WENNING
Ich habe sechs Jahre die Realschule besucht und zwei Jahre die Höhere Handelsschule. Damit wäre es heute wohl schwieriger.
Aber unabhängig vom Abschluss kann ich jungen Menschen nur raten, was ich mir auch immer zu Herzen genommen habe: Traut euch was, habt Mut zur Veränderung.
Was hat Sie geleitet?
WENNING
Ein klarer Wertekanon. Meine Leitlinie war stets: Achte deinen nächsten wie dich selbst.
Das leitet sich aus Ihrem christlichen Glauben ab?
WENNING
Es ist meine tiefste Überzeugung, die auch aus dem Glauben kommt. Den anderen achten, über alle Hierarchiestufen hinweg – das ist die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen.
Was hat Sie bei Bayer geprägt?
WENNING
Die frühe Arbeit im Ausland. Ich war 23 Jahre, als mich Bayer nach Peru schickte. Dort baute der Konzern eine Kunstfaser-Fabrik. Ich habe in Lima das Rechnungswesen aufgebaut. Zugleich konnte ich so ein Versprechen einlösen, das ich meiner Frau gegeben hatte: ihr die Welt zu zeigen.
Wie war es dort?
WENNING
Spannend. Leverkusen war weit weg, als junger Mensch musste ich in Peru bereits viel entscheiden. Wir lernten schnell Spanisch, um uns vor Ort gut einzuleben. Heute kann in der Firma jeder mindestens Englisch sprechen, das war früher anders.
Wie anders war damals Bayer?
WENNING
Als ich mit meiner Ausbildung anfing, machte Bayer umgerechnet drei Milliarden Euro Jahresumsatz, davon 40 Prozent in Deutschland. Heute setzt der Konzern mehr als 43 Milliarden Euro um, davon noch gut fünf Prozent in Deutschland. Das zeigt auch, wie sich Bayer verändert hat.
Keiner hat Bayer so stark umgebaut wie Sie. Wie verhindert man, dabei das Wesen eines Konzerns zu zerstören, wie es beim Konkurrenten Hoechst geschehen ist?
WENNING
Kaufen und Verkaufen ist ja kein Selbstzweck. In Zeiten des intensiven Wettbewerbs müssen Unternehmen die Fähigkeiten und den Mut aufbringen, um die Zukunft aktiv zu gestalten. Das bedarf einer klaren Analyse, eines überzeugenden Plans und einer disziplinierten Umsetzung. Wer den Kern eines Unternehmens stark machen will, muss vieles verändern.
Sie haben sogar die historischen Wurzeln gekappt, indem Sie die Chemie in Lanxess und die Kunststoffe in Covestro auslagerten ….
WENNING
Viele Unternehmen haben sich im Laufe der Zeit spezialisiert. Unsere Analysen hatten ergeben, dass wir nicht allen Bereichen ausreichend Mittel geben konnten, damit sie wachsen und sich im Wettbewerb behaupten können. Als Konsequenz haben wir die Chemie abgespalten. Lanxess hat sich sehr gut entwickelt – ebenso wie später Covestro. Zugleich haben wir viel im Gesundheits- und Landwirtschaftsbereich investiert, mit Schering haben wir 2006 einen Dax-Konzern übernommen.
Das kam plötzlich …
WENNING
Eigentlich wollten wir mit Schering eine Kooperation eingehen. Doch dann kam die Übernahme-Offerte von Merck. Wir sind als sogenannter weißer Ritter eingestiegen und haben damit unser Pharma-Geschäft stark ausgebaut. Innerhalb weniger Tage konnten wir eine Einigung erzielen. Das war eine tolle Teamleistung.
Als Sie 2002 Vorstandschef wurden, war Bayer allerdings in einer bedrohlichen Lage. Wegen Todesfällen von Patienten, die Lipobay genommen hatten, stand der Konzern in den Schlagzeilen und musste den Cholesterinsenker vom Markt nehmen. Hatten Sie Angst, dass Bayer das nicht überlebt?
WENNING
Nein, unsere Kampfbereitschaft war groß. Aber die Lage war damals schon dramatisch, die Bayer-Aktie fiel unter zehn Euro. Bayer war ein Schnäppchen und hätte übernommen werden können. Dann kam die entscheidende Gerichtsverhandlung in Corpus Christi – und die Richter gaben Bayer Recht.
Sie gaben dem ZDF ein Interview, der Journalist verkürzte es auf den Satz: „Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Medikamente auch Nebenwirkungen haben.“Der Boulevard titelte, der Bayer-Chef verhöhnt die Opfer. Was war da los?
WENNING
Das war einer der bittersten Momente meiner Karriere. Ich habe das Interview in London gegeben, sieben Minuten dauerte es. Und dann wurde ein Satz komplett aus dem Zusammenhang gerissen und ausgestrahlt. Daraus habe ich viel gelernt.
Wie hat das Ihr Verhältnis zu Journalisten verändert?
WENNING
Das war zum Glück ein Einzelfall. Ein Vorstandschef steht als oberster Repräsentant des Unternehmens immer im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit und muss deswegen auch offen kommunizieren. Das gilt an sonnigen Tagen genauso wie in Zeiten, wenn einem der Wind mal ins Gesicht bläst.
Nun entscheidet sich das Schicksal von Bayer erneut in US-Gerichtssälen – 48.000 Kläger machen Monsanto für ihre Krebserkrankung verantwortlich. Ein Déjà-vu-Erlebnis?
WENNING
Die Situation ist heute eine ganz andere. Bayer ist deutlich besser aufgestellt. Was sich nicht geändert hat: Die Sicherheit unserer Produkte hat für uns immer höchste Priorität. Wir vertrauen den Schlussfolgerungen von Regulierungsbehörden weltweit. Diese sind wiederholt zu dem Schluss gekommen, dass die glyphosatbasierten Herbizide von Bayer bei sachgemäßer Verwendung sicher sind und dass Glyphosat nicht krebserregend ist.
Kritik an der Übernahme von Monsanto gab es von allen Seiten: Aktionären, Umweltschützern, Kirchen. Die Aktie hat zeitweise 40 Prozent ihres Wertes verloren. Hatten Sie das erwartet?
WENNING
Der Markt hatte damals erwartet, dass wir uns im Pharma-Bereich durch eine größere Übernahme verstärken würden. Dass wir dann den Bereich Crop Science ausgebaut haben, auch weil die Branche sich global konsolidierte, musste im Kapitalmarkt erst gründlich erklärt werden. Das gelang demVorstand auch zunehmend. Doch dann ging der erste Prozess verloren, als wir noch gar kein grünes Licht der Wettbewerbsbehörden hatten, die Übernahme abzuschließen und mit der Integration zu beginnen.
Nach all den Klagen, Kursverlusten, Ärger – würden Sie Monsanto noch einmal übernehmen?
WENNING
An der Logik der Übernahme hat sich nichts geändert.Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir mit der Übernahme langfristig Wert schaffen werden. Gerade in der jetzigen Zeit zeigt sich einmal mehr überall auf der Welt, wie wichtig das Thema Ernährungssicherheit ist.
Nun laufen die Vergleichsverhandlungen. Welche Hoffnungen können Sie Anlegern machen?
WENNING
Wie bereits vom Vorstand kommuniziert, verzögern sich durch die Corona-Krise die Vergleichsverhandlungen. Aber das Unternehmen engagiert sich weiterhin konstruktiv in der Mediation. Gerade auch im derzeitigen Umfeld wird Bayer einer Lösung weiterhin nur dann zustimmen, wenn sie wirtschaftlich vertretbar ist und den Verfahrenskomplex zu einem vernünftigen Abschluss bringt. Zugleich sind wir weiterhin davon überzeugt, dass Glyphosat bei richtiger Anwendung sicher ist. Das bestätigen uns immer wieder Zulassungsbehörden in aller Welt.
Die Corona-Krise stellt die Welt vor neue Herausforderungen. Wie sehen Sie den Umgang damit?
WENNING
Die Bundesregierung hat bislang die Herausforderungen gut gemeistert. Sie kümmert sich um die Gesundheit der Bevölkerung und will die Folgen für die Wirtschaft möglichst abfedern. Problematisch finde ich allerdings, dass Staaten wenig abgestimmt gegen die Krise vorgehen. Jeder kämpft vor allem für sich gegen das Virus – dabei kann man eine Pandemie nur gemeinsam wirkungsvoll bekämpfen. Das gilt umso mehr, als dass einige Schwellenländer gar nicht die Möglichkeit haben, die Krise alleine zu meistern.
Was kann Bayer zur Bewältigung der Krise beitragen?
WENNING
Wir tun, was wir können, mit Geld- und Sachspenden, mit dem Einsatz von unseren Mitarbeitern im Gesundheitswesen, mit Testgeräten und vielen weiteren Maßnahmen. Wir stellen auch das Malariamittel Chloroquin Regierungen ebenfalls als Spende zur Verfügung. Allerdings liegen bislang keine belastbaren Ergebnisse aus klinischen Studien zum Nutzen-Risiko-Profil bei der Behandlung von Covid-19 vor, und bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln muss letztlich immer ein Arzt über dessen Anwendung entscheiden.
Wegen der Krise kann die Hauptversammlung nun nur online stattfinden …
WENNING
Ich hätte mich lieber anders von den Aktionären verabschiedet, aber selbstverständlich geht der Gesundheitsschutz vor.
Das Treffen vor einem Jahr war turbulent, die Aktionäre verweigerten dem Vorstand um Werner Baumann die Entlastung. Wie war das?
WENNING
Enttäuschend, weil die Leistungen, die erbracht wurden, dadurch nicht gewürdigt wurden. Aber wir haben daraus auch gelernt, hingehört und Dinge verändert.
Manche sagen, ohne Ihre Rückendeckung wäre Werner Baumann heute nicht mehr Vorstandschef …
WENNING
Das ist doch Unsinn. Unter der Führung von Herrn Baumann hat Bayer zum Beispiel 2019 alle seine finanziellen und strategischen Ziele erreicht. Diese außergewöhnliche Leistung wird vom gesamten Aufsichtsrat gesehen und anerkannt.
Und was machen Sie nach Dienstag? Man kann sich schwer vorstellen, dass Sie nur in Leverkusen im Garten sitzen.
WENNING
Das werde ich auch nicht tun. Ich bin noch bis Anfang 2021 im Aufsichtsrat von Siemens. Und daneben habe ich ja noch ein großes Hobby und werde weiterVorsitzender des Gesellschafterausschusses von Bayer 04 bleiben.
Bis die Werkself die Schale holt?
WENNING
(lacht) Im Scherz drohe ich schon mal damit, dass ich so lange bleibe, bis Bayer 04 Deutscher Meister wird.