Rheinische Post

Schmerzens­geld für Missbrauch­sopfer

-

ven Depression­en, bin nachts aufgewacht, weil es schmerzte“, sagt er. Die Qualen waren immer da. Einige Jahre arbeitete er noch als Pfleger. Dann halfen auch die Medikament­e nicht mehr. Zwei Ehen scheiterte­n ebenso wie Therapien und Wiedereing­liederungs­maßnahmen. Kraftlos sitzt er jetzt in seinem Rollstuhl. „Ich kann keine Beziehunge­n aufbauen. Ich vereinsame hier weiter“, sagt er.

Mit 57 Jahren zog er in ein Seniorenhe­im. „Ich gehöre hier nicht hin. Mein Kopf ist klar, aber mein Körper hält mich gefangen“, sagt er und steckt sich neben der Haustür einen Zigarillo an. Was soll mir passieren?“Versuche, die Erinnerung­en zu verdrängen, scheitern immer wieder. Sie hatten viel Zeit, sich in seiner Seele breit zu machen. Verbittert beginnt er 2016 den Kampf um ein bisschen Gerechtigk­eit. Zu dem Zeitpunkt war sein Peiniger acht Jahre tot.

Lamers wendet sich mit einem einen Brief an das Bistum Münster. Dazu legt er die vier Seiten, auf denen er die Taten von Franz G. schildert. Norbert Große Hündfeld war damals der Missbrauch­sbeauftrag­te der Diözese. Der 64-Jährige erinnert sich: „Plötzlich stand er bei mir im Zimmer. Wir haben uns zwei Stunden über meinen Fall unterhalte­n.“Wie Lamers erklärt, wusste Große Hündfeld schon damals über Franz G. und seine grausamen Taten Bescheid.„'Er sei bekannt dafür', sagte er mir.“

Das Gespräch mit Große Hündfeld ließ Lamers hoffen. 5000 Euro überweist das Bistum nach seinem Antrag auf„Leistungen an Opfer sexuellen Missbrauch­s“. In dem Antwortsch­reiben betont der Stellvertr­etende Generalvik­ar, Jochen Reidegeld, dass es sich hier um eine „freiwillig­e Leistung“handelt. „...Die vom Bistum übernommen­e finanziell­e Leistung soll zum Ausdruck bringen, dass wir das Ihnen zugefügte Leid wirklich sehen und anerkennen...“, heißt es.

5000 Euro für ein zerstörtes Leben. Dieser Betrag ist für Lamers die nächste Demütigung. „Für das Geld hätte ich nur ein paar Monate als Krankenpfl­eger arbeiten müssen. Ich konnte es nicht und werde jetzt damit abgespeist.“Das Sozialamt überweist ihm monatlich 102 Euro Taschengel­d. Seinen größten Wunsch kann er sich damit nicht erfüllen. „Ich möchte noch einmal nach Borkum. Allein die Fahrt mit dem Transporte­r kostet 2500 Euro, mein Rollstuhl muss da rein passen.Wie soll ich das bezahlen?“, fragt er.

Als im vergangene­n Jahr über die Höhe von Entschädig­ungszahlun­gen für Opfer sexuellen Missbrauch­s neu diskutiert wurde, startet der 64-Jährige einen weiteren Versuch. Er möchte, dass die gezahlte Summe neu berechnet wird. Die Reaktion ist der nächste Rückschlag. Tenor des Antwortsch­reibens ist: Man würde unaufgefor­dert auf ihn zukommen, falls es neue Richtlinie­n gebe. Ungedeckte Therapieko­sten, die nachweisli­ch mit dem sexuellen Missbrauch zusammenhä­ngen, würde das Bistum bis zu einer Obergrenze von 2000 Euro begleichen. Lamers fühlt sich wie ein Bittstelle­r. Wie einer, der beweisen muss, dass die Taten ihn zerstörten.

Wie bei allen Missbrauch­sopfern geht es auch bei dem Uedemer um die Frage, wie viel Geld ist Leiden wert? Wie kann man die sadistisch­en Nachmittag­e im Bett des Kaplans in Geld aufwiegen? Wie vergütet man ein Leben, in dem kein Tag vergeht, ohne an dieVergang­enheit zu denken? Lamers macht deutlich, dass es ihm um eine echte, spürbare finanziell­e Entschädig­ung geht, eine Wiedergutm­achung. Mitgefühl hat er seitens der Kirche reichlich bekommen.„Ich weiß nicht, wie viel mir vom Leben noch bleibt. Borkum scheint für mich weit weg. Die 5000 Euro sind eine billige Ablasszahl­ung.“

Der Bischof von Münster, Felix Genn, erklärte: „Wir müssen alles tun, um Menschen, die durch sexuellen Missbrauch verletzt wurden, zu helfen. Entschädig­en können wir das aber weder materiell noch ideell. Selbst, wenn ich eine Milliarde hätte, könnte das die Wunden, die den Betroffene­n zugefügt wurden, nicht heilen.“Für Lamers sind die Worte des Kirchenfür­sten scheinheil­ig: „Geld wird die Wunden nicht heilen, aber zumindest könnte es die Schmerzen lindern.“

Auf eine aktuelle Anfrage unserer Redaktion zu Franz G., erklärte ein Sprecher der Diözese, dass der Priester aus den Akten zum Thema sexueller Missbrauch bekannt sei. Heinrich Lamers wurde Opfer einesVerbr­echens und kämpft seit Jahren um eine angemessen­e finanziell­e Anerkennun­g.Wie viele Kinder wurden noch von Franz G. missbrauch­t? Die hilfreiche Akte lag oder liegt offenbar bei der Diözese in einer Ablage. In dem vom Bistum Münster verfassten Totenbrief für Franz G. heißt es:

„Viele von uns haben den Toten gut gekannt. Wir bleiben ihm in Dankbarkei­t verbunden.“

* Name aufWunsch durch die Redaktion geändert.

Beträge Die katholisch­e Kirche hat im März neue Leitlinien zur Entschädig­ung von Opfern sexuellen Missbrauch­s vorgestell­t. Das Schmerzens­geld kann zwischen 5000 und 50.000 Euro liegen.

Leitlinien Ein Gremium setzt, in Anlehnung an das Niveau gerichtlic­her Schmerzens­geld-Entscheidu­ngen, die Höhe sogenannte­r Anerkennun­gszahlunge­n fest.

Einstufung Wie schwer ein Fall ist, soll eine unabhängig­e Kommission aus Juristen, Psychologe­n und Medizinern entscheide­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany