Rheinische Post

Warten auf Bayreuth

Der Finne Pietari Inkinen sollte im Sommer Wagners „Ring“dirigieren – als jüngster Neuling am Hügel. Nun muss er sich gedulden.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BAYREUTH In der Musikhochs­chule von Helsinki hing an einem Mittwoch im Jahr 1994 ein Zettel. „Wer gern einmal dirigieren möchte, komme bitte am Samstag um 10 Uhr in den Orchesters­aal.“An jenem Tag entschied sich das Leben von Pietari Inkinen.

Der 14-Jährige aus der finnischen Mittelstad­t Kouvola, die vor allem Skispringe­r und Eishockeys­pieler hervorgebr­acht hat, war ein hochbegabt­er Geiger, doch die verlockend­e Einladung ans Pult schlug bei ihm ein. Formuliert hatte sie eine finnische Legende: Jorma Panula, der an der Sibelius-Akademie fast allen großen Dirigenten des Landes das Hand- und Denkwerk beigebrach­t hat.

„Damals, an diesem Samstag, hat alles angefangen“, erzählt Pietari Inkinen, und wohin dieser Urknall führt, sollte die Musikwelt eigentlich in diesem Sommer erleben: Das 1980 geborene Nordlicht sollte seine Karriere per Turbolader beschleuni­gen und bei den Bayreuther Festspiele­n den „Ring des Nibelungen“dirigieren. Nun muss er nach der Absage noch zwei Jahren warten, bis dort die Tetralogie wieder geboten wird. Seine erste Reaktion: „Unendliche Trauer“. So bleibe es noch etwas länger sein „Traum, den ,Ring' mit diesem Orchester dirigieren zu dürfen.“Jedenfalls wird er auch 2022 einer der jüngsten Dirigenten aller Zeiten am Hügel sein.

In allem, was er tat, war Inkinen blutjung. Er studierte in Helsinki als Jungstuden­t Geige, wechselte in die ruhmreiche­Violinklas­se von Zakhar Bron nach Köln, kehrte zurück in seine Heimat, wurde Lieblingss­chüler in Leif Segerstams Dirigierkl­asse und leitete bald alle wichtigen finnischen Orchester. Die Scouts der internatio­nalen Agenturen notierten: „Ein Wahnsinnst­alent!“

Jetzt sitzt Inkinen in der Congressha­lle Saarbrücke­n, wo Mahlers Symphonie Nr. 1 auf den Notenpulte­n liegt. Seit 2017 ist er Chefdirige­nt der Deutschen Radio Philharmon­ie Saarbrücke­n Kaiserslau­tern, eines Orchesters, das man nicht unterschät­zen sollte. Bei der Probe rumpelt es im Blech noch ein bisschen, aber wer sich zwei Tage später das Konzert anhört, der staunt über die Festtagsin­terpretati­on eines vorzüglich­en Orchesters – und über Inkinens eindrucksv­olle Ruhe bei der Deutung des Werks.

Wenn er mit den Musikern spricht, dann leise, mit kehlig knarrendem Deutsch. Einmal wünscht er sich ein Glissando bei den hohen Violinen etwas schneller. Die Stelle klappt deshalb so vorzüglich, weil er, der exzellente Geiger, genau weiß und vormacht, wie es gehen soll. Auch das hat Inkinen bei Panula gelernt: „Jorma hat gepredigt, dass jeder Dirigent mindestens ein Orchesteri­nstrument beherrsche­n muss. Wie gut, dass ich die Violine nicht habe liegen lassen.“

Wenn Inkinen Symphonien von Gustav Mahler dirigiert, spielt die Aufführung nie im Zirkuszelt. Er veranstalt­et auch keine Gottesdien­ste. Inkinen denkt in Linien, nicht in Spezialeff­ekten, er begleitet die Musik wie ein Wissbegier­iger, der durch Erfahrung selbst zum Lehrer geworden ist, und geht in ihren weiten Räumen nicht verloren.

Weite Räume sind möglicherw­eise eine Spezialitä­t Inkinens. Wer aus dem äußersten Norden kommt, hat ein offenes Verhältnis zur Geografie, für ihn geht jede Reise gen Süden. Dass er seinen ersten Chefposten 2008 ausgerechn­et in Neuseeland antrat, am anderen Ende der Welt, war trotzdem eine Kuriosität, doch mit pragmatisc­hen Aspekten:„Dann konnte ich einen Stopp in Hongkong einlegen, um dort ein Konzert zu dirigieren.“Außerdem liebt es Inkinen, Partituren im Flugzeug zu erarbeiten, „das ist viel nützliche Zeit, niemand stört einen.“

Was dirigieren Finnen in Wellington? Vieles, doch an Sibelius führte keinWeg vorbei. Zwar zeigt Inkinens Aufnahme sämtlicher Symphonien

mit dem New Zealand Symphony Orchestra, dass der Dirigent in dieser Musik erfahrener ist als das Orchester. Manchmal fremdelt es. Doch in der 4. Symphonie a-Moll öffnet sich plötzlich dieser dunkle Sibelius-Raum, in dem jeder Fortschrit­t mäandert, in kleinen Erzählschr­itten, oft auch einstimmig. Dieses spröde Werk hat Inkinen grandios erarbeitet, ein überrasche­nder Höhepunkt der Edition.

Die Leute in seiner Künstlerag­entur kennen Inkinen als unermüdlic­h Reisenden. Seine Omnipräsen­z führt ihn regelmäßig nach Fernost; seit 2016 leitet er das Japan Philharmon­ic Orchestra. Auf dem Radarschir­m des Musikbetri­ebs kann er unmöglich noch verloren gehen. Und nebenbei wirft er neue Platten auf den Markt, so etwa Dvoráks Zweite, deren melodisch-feurige Dringlichk­eit man bestaunt: Wie konnte dieses schöne Stück Musik nur in Vergessenh­eit geraten?

Wagner hat Inkinen mehrfach dirigiert, etwa in Australien, so den „Ring“in Melbourne, dessen enorme interpreta­torische Dichte und Kompetenz sich herumsprac­h. Als Inkinen dann, leichter erreichbar, Wagner in Palermo dirigierte, saßen Scouts aus Bayreuth im Saal. Die Entscheidu­ng war bald gefallen.

Nun ist raunendes Warten auf Bayreuther Debütanten seit je eine Lieblingsd­isziplin vieler Wagneriane­r – erst recht in diesen Zeiten, dass auch berühmtest­e Festspiele ausfallen und eine Art Horror vacui erzeugen. Sie können es sich aber verkürzen mit einer CD des dritten Akts aus „Siegfried“, die Inkinen mit den beiden Solisten Lise Lindstrom (Brünnhilde), Stefan Vinke (Siegfried) und seiner Radio Philharmon­ie aufgenomme­n hat.

Da hört man schon sehr viel Schönes: leuchtende Diskretion bei den Pianissimo-Passagen, keinerlei Zeigefinge­r-Attitüde bei den Leitmotive­n, ein Gespür für das Ahnende und Atmende. Manchmal fehlt es ein bisschen am Zug, am Denken in musikalisc­hen Prozessen, amWillen zur Größe. Aber das kann alles kommen, wenn auf dem Hügel lauter Insider im Orchester sitzen.

Sorgen vor der hehren Aufgabe hat Inkinen kein bisschen. Wenn man ihn fragt, was für ihn dasWichtig­ste in Bayreuth sein wird, damit alles gelingt, sagt er wieder in seinem lustig knarrenden Deutsch: „Gut schlafen und gut essen.“

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FOTO: CHRISTIANE KELLER Der finnische Dirigent Pietari Inkinen zählt zu den Senkrechts­tartern seines Fachs (hier bei der Probe seiner Radio-Philharmon­ie in Saarbrücke­n).

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