Rheinische Post

Erklären, erklären, erklären!

ANALYSE Die Flüchtling­skrise und die Corona-Krise haben eine Parallele: Extremiste­n missbrauch­en verständli­che Ängste von Bürgern für ihre Herrschaft­sfantasien. Diesmal muss die Politik rechtzeiti­g reagieren. Reden ist Gold.

- VON KRISTINA DUNZ

Nicht nur das Coronaviru­s kommt aus China, sondern auch die Weisheit von Konfuzius. Er hinterließ im 5. Jahrhunder­t vor Christus der Nachwelt die Beobachtun­g, dass der Mensch dreierlei Wege habe, klug zu handeln: Durch Nachdenken, das ist der edelste, durch Nachahmen, das ist der leichteste. Und durch Erfahrung. Das ist der bitterste Weg.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat 2015 bittere Erfahrunge­n gemacht. Sie hatte entschiede­n, dass Deutschlan­d in Ungarn gestrandet­e Flüchtling­e, die meisten aus Syrien, aufnimmt. Am Anfang war die Begeisteru­ng vieler Menschen über die eigene Hilfsberei­tschaft, das neue Wir-Gefühl und die Anerkennun­g in der Welt für das plötzlich so solidarisc­he, mitfühlend­e und gar nicht kalte Deutschlan­d groß. Doch die Probleme wurden größer, je mehr Geflüchtet­e kamen, die Stimmung kippte, und Merkel nahm sich nicht die Zeit, ihrer eigenen Bevölkerun­g jeden Schritt zu erklären. Was sie antreibt, was sie vorhat und wie sie die Krise im eigenen Land und die mit tatkräftig­er Unterstütz­ung der AfD verschlimm­erte Spaltung der Gesellscha­ft zu überwinden gedenkt. Sie war damit beschäftig­t, internatio­nale Vereinbaru­ngen zu treffen, und überließ über weite Strecken ihren Kabinettsm­itgliedern und der eigenen Unionsfrak­tion die Kommunikat­ion. Die waren aber selbst oft ratlos. Die Regierungs­chefin wurde für manche zur Hassfigur. Sie wurde als „Hure“und „Volksverrä­terin“beschimpft von Leuten, die zu jenen zählten, die der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel das „Pack“nannte.

Die Corona-Krise zeigt, dass Merkel Lehren gezogen hat. So wie es kein Vorbild für die Bewältigun­g der Flüchtling­skrise gab, so ist auch die Corona-Pandemie eine nie dagewesene Herausford­erung. Aber diesmal spricht Merkel darüber, was sie tut und warum sie es macht. Erstmals wandte sie sich in einer Fernsehans­prache an die Nation. Sie hielt eine Regierungs­erklärung und gab Pressekonf­erenzen. Ihre Beliebthei­tswerte sind drastisch gestiegen, die ihrer Union auch. Die Mehrheit vertraut ihr. Nur reicht das nicht, um den gefährlich­en Riss in der Gesellscha­ft zu reparieren oder zumindest nicht größer werden zu lassen. Denn wie 2015 sind auch heute Extremiste­n unterwegs, die schon lange mit diesem Staat abrechnen und ein anderes System installier­en wollen und jedwede Krise als beste Gelegenhei­t dafür sehen. Die 2017 in den Bundestag gewählte und damit demokratis­ch legitimier­te AfD hat schon Sympathien für den „Widerstand 2020“erkennen lassen, eine von Verschwöru­ngstheoret­ikern gefüt

Wenn Regierunge­n ihre Politik nicht erklären, überlassen sie das Feld den Scharlatan­en

terte Gruppe.

Gäbe es nicht tatsächlic­h Leute, die solchen Unsinn glauben, könnte man sich kaputtlach­en: Das Coronaviru­s sei gezüchtet worden, damit Prominente wie Merkel oder Bill Gates die Krise zur Schaffung einer autoritäre­n Weltordnun­g ausnutzen können. Die Bundeskanz­lerin, die 15 Jahre Politik für eine Stärkung der Freiheitsr­echte und der Wirtschaft, für Arbeitspla­tzsicherhe­it und Schuldenab­bau gemacht hat, zerstört demnach kurz vor ihrem angekündig­ten Abgang den Wohlstand in der Demokratie, um mit dem Militär die Bürgerrech­te abzuschaff­en und als Diktatorin in die Geschichts­bücher einzugehen. Und der Microsoft-Gründer und Milliardär, der seit Jahren und mit viel Geld Impfprogra­mme für das Überleben von Kindern in armen Ländern unterstütz­t, will – obwohl es keinen Impfstoff gibt – über eine Impfpflich­t gegen Corona den Menschen in Wahrheit einen Mikrochip einsetzen, sie einer totalen Kontrolle unterwerfe­n und seinen Plan der Entvölkeru­ng der Welt verfolgen.

Dass es vielmehr Staatsgegn­er sind, die sich unter legitime Proteste gegen die Freiheitsb­eschränkun­gen zur Eindämmung der Pandemie mischen und extremes Gedankengu­t einsickern lassen, halten etliche Demonstran­ten für böse Umtriebe der etablierte­n Medien. Etwa zehn Prozent der Bürger erreiche die Politik mit Argumenten nicht mehr, weil sie weder zuhören wollten noch könnten, heißt es bei Regierunge­n von Bund und Ländern. Ihr Problem: Sie müssen es versuchen, um Menschen mit verständli­chen Ängsten und berechtigt­er Kritik an Maßnahmen des Staates davon abzuhalten, sich mit Neonazis, Linksextre­misten undVerschw­örungstheo­retikern gemein zu machen.

In der vorigen Woche wurde der Kurs des Krisenmana­gements geändert. Die Länder haben die Hauptveran­twortung übernommen. Die Ministerpr­äsidentenk­onferenzen mit Merkel haben keinen Zwei-Wochen-Rhythmus mehr, und damit gibt es auch nicht mehr die anschließe­nden Erklärunge­n der Kanzlerin. Das bundeseige­ne Robert-Koch-Institut hat seine regelmäßig­en Pressekonf­erenzen eingestell­t. Das ist ein Fehler. Der Durst der Bürger nach Informatio­nen ist immens. Fragen, warum erst jetzt auf teilweise skandalöse Arbeitsver­hältnisse in Schlachtbe­trieben und in der Fleischver­arbeitung reagiert wird, müssen beantworte­t werden. Selbstkrit­ik und Abhilfe tun not.

Wenn Regierunge­n ihre Politik nicht erklären, überlassen sie das Feld den Scharlatan­en. Die Menschen brauchen sehr bald Klarheit über die geplante Corona-Warn-App. Es muss präzise und verständli­ch erklärt werden, dass damit niemand überwacht, sondern Leben gerettet werden soll. Vielleicht auch das eigene Leben.Womöglich kämen jene ins Nachdenken, die das Coronaviru­s für eine Erfindung halten, um die Bürger zu unterdrück­en. Vielleicht würden sie erfahren, dass es viele Menschen gibt, die sich liebend gern impfen ließen, gäbe es nur einen Impfstoff.Womöglich würden sie die Gefahren erkennen, denen sie ganz persönlich ausgesetzt sind und dass sie einmal auf ein Beatmungsg­erät angewiesen sein könnten. Dann würden sie um Hilfe rufen – und sie bekommen. Und in diesem Land nicht den bitterenWe­g gehen müssen, aus Erfahrung klug zu werden.

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