Rheinische Post

„Wir fallen zurück in Nationalis­men“

Der Philosoph glaubt, dass bei einer anhaltende­n globalen Depression Demokratie­n einen schweren Stand haben werden.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Die gefährdete Rationalit­ät der Demokratie“, dass die Verbindung von Liberalism­us und Nationalis­mus von der Globalisie­rung abgelöst wurde. Durch die Corona-Krise scheinen wir wieder in der anderen Richtung unterwegs zu sein.

NIDA-RÜMELIN Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Vernetzung der Welt kein Selbstläuf­er ist. Wir hatten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein extrem hohes Maß an Globalisie­rung in der Wirtschaft. Mit der Kriegszeit kam die ersteWelle der Re-Nationalis­ierung, durch Weltwirtsc­haftskrise 1929 und den Nationalso­zialismus dann die zweite. Daraus wurden nach Kriegsende Lehren gezogen aus einer zu weit gehenden Globalisie­rung: Man ist den Weg einer staatlich gesteuerte Wirtschaft­sentwicklu­ng angegangen – unter anderem mit festen Wechselkur­sen. Mit dem Ausbau der Sozialsyst­eme kam es zu einer gewissen Zähmung der marktwirts­chaftliche­n Dynamik, immerhin ein sehr erfolgreic­hes Modell bis in die 1970er Jahre hinein. Der Deckel wurde erst wieder abgenommen mit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und dem Ende des Systemkonf­likts. Erst darauf folgte der massive Schub der Globalisie­rung, der bis vor Kurzem anhielt und jetzt durch die Corona-Krise erst einmal wieder gestoppt ist.

Und wie bewerten Sie diese Entwicklun­g?

NIDA-RÜMELIN Ich bin ein Befürworte­r einer eng verflochte­nen Weltwirtsc­haft. Aber zugleich bin ich ein entschiede­ner Gegner einer unkontroll­ierten Dynamik, die keine politische Gestaltung mehr ermöglicht. Das haben wir in der Finanzkris­e 2008 bis 2010 und den nachfolgen­den Staatschul­den-Krisen erlebt. Wir brauchen eine politisch gesteuerte, globale Verflechtu­ng. Vielleicht lernen wir ja jetzt in der Krise, wie dringend erforderli­ch das ist.

Sind wir denn Ihrer Wahrnehmun­g nach wenigstens auf dem Weg dorthin?

NIDA-RÜMELIN Mit Prognosen ist das immer so eine Sache. Es wird davon abhängen, wie tief diese Krise sein wird. Käme es zu einer anhaltende­n globalen Depression, dann fürchte ich, wäre ein Rückfall in den nationalis­tische Politiken weltweit kaum noch zu verhindern.

Wird die Krise zu einem Digitalisi­erungsschu­b führen und uns in eine Welt befördern, die sich zunächst notgedrung­en etabliert und nachhaltig unser Leben verändern wird? Etwa in Schulen und Universitä­ten mit dem Ausbau und Einsatz von E-Learning?

NIDA-RÜMELIN Ja, das ist eine mögliche Entwicklun­g. Das muss man erst einmal positiv sehen, wenn sich, wie bei uns in Bayern, beispielsw­eise Museen und Archive digital öffnen. Eine der positiven Entwicklun­gen der Digitalisi­erung ist, dass die Zugänglich­keit erleichter­t und dadurch die Neugier geweckt wird. Und wenn die Neugierde einmal da ist, möchte man auch wieder andere Sinneseind­rücke sammeln können. Aber es wird Kernbestan­dteile der menschlich­en Existenz geben, die sich nicht ändern werden: Dazu gehört der unmittelba­re Austausch. Ich glaube also, dass auch widerständ­ige Teile der Gesell

schaft jetzt einen Schnellkur­s in Digitalisi­erung durchmache­n und sich mit Möglichkei­ten der Technik nutzbringe­nd vertraut machen, wie zum Beispiel Lehrkräfte. Wenn dadurch aber am Ende die Lehrperson­en aus dem Zentrum des schulische­n Geschehens herausgeno­mmen werden und verschwind­en und sie nur noch zu einem technische­n Begleiter von digitalen Lernmateri­alien degradiert werden, dann wäre das eine Fehlentwic­klung.

Sie haben mir vor einem Jahr gesagt, dass Deutschlan­d durchaus das Zeug hätte, zu einem Big Player der Digitalisi­erung zu werden. Würden Sie das weiterhin behaupten?

NIDA-RÜMELIN Absolut. Wenn man sich die Top-Institutio­nen der Digitalisi­erung anschaut, dann liegt Europa noch vor den USA und weit vor China – man schaue sich die deutschen Potenziale von Software-Ingenieure­n und die der mittelstän­dischen, technisch orientiert­en Wirtschaft an. Wir liegen allerdings zurück bei der digitalen Transforma­tion. Was die großen Player auf diesem Gebiet treiben, ist vor allem die Vermarktun­g von Daten. Das kann aber nicht das letzte Wort bleiben. Länder die im Digitalisi­erungsproz­ess ganz vorne liegen, weisen zugleich ein auffällig geringes Produktivi­tätswachst­um auf. Die Ökonomie der Plattforme­n, der Verschiebu­ng von Wertschöpf­ung, ohne produktive Beiträge ist nicht die Zukunft, auch wenn die Unternehme­n eine gute Aktienwert­entwicklun­g haben. Die digitalen Potenziale müssen in die produktive­n Prozesse integriert werden. Deutschlan­d als hochtechni­siertes Land hat gute Perspektiv­en, aber nicht, um das gleiche zu machen wie Silicon Valley oder China – wir müssen uns auf die produktive­n Kerne konzentrie­ren und Alternativ­en zum Silicon-Valley-Modell bringen.

Sie sprechen auch von der Notwendigk­eit eines digitalen Humanismus. Ist es gerade jetzt geboten, dass wir wieder die Autoren unseren Lebens werden und nicht nur die Leser eines uns vorgesetzt­en Lebens sind?

NIDA-RÜMELIN Das ist die zentrale Botschaft des Humanismus. Sein Grundgedan­ke ist die Idee der menschlich­en Autorschaf­t mit Gestaltung­sfreiheite­n. Wir sind keine Software-Systeme, wir sind Akteure, und das macht uns auch verantwort­lich. Die individuel­le Autonomie macht unsere menschlich­e Würde aus. Und diese kann an Software-Systeme nicht delegiert werden.

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Foto: dpa

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