Wettstreit um ESC-Fans
Am Abend des abgesagten ESC-Finales in Rotterdam konkurrieren ARD und ProSieben mit Ersatzshows. Während das Erste mit Originalbeiträgen punktet, lässt der Privatsender Sarah Lombardi und Vanessa Mai singen. Und vielleicht auch Stefan Raab. Ein Überblick.
HAMBURG
Das bisher eher verhaltene Interesse lässt nichts Gutes vermuten: Gerade mal 190.000 Menschen sahen am vergangenen Samstag zu, als auf dem ARD-Kanal One die zehn Teilnehmer für die Show„Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale“gekürt wurden. Sie soll am kommenden Samstag das wegen der Pandemie ausgefallene ESC-Finale in Rotterdam ersetzen. Barbara Schöneberger moderiert live vor leeren Rängen aus der Hamburger Elbphilharmonie, die ARD überträgt. Zeitgleich feiert auch ProSieben seine ESC-Party unter dem Motto„Free European Song Contest“.Wer zeigt was und warum?
Die ARD nimmt für sich in Anspruch, mit dem deutschen Finale den „Sieger der Herzen“finden zu wollen. Aus 40 ESC-Beiträgen konnten die Zuschauer im Halbfinale online oder per Tele-Voting ihre zehn Favoriten wählen. Mit dabei sind die Schweiz, Russland, Island, Italien und Schweden, dazu Bulgarien, Dänemark, Malta, Litauen und Aserbaidschan. Für die Schweiz singt der 21-jährige Gjon Muharremaj die Popballade „Répondez-moi“. Der Sänger albanisch-kosovarischer Abstammung tritt als Gjon's Tears auf. Für Island versucht es der in Reykjavík geborene Wahlberliner Daði Freyr mit seiner Band Gagnamagnið und dem Electro-Popsong „Think About Things“– Freyr zählte unter ESC-Fans als Favorit für den Gesamtsieg. Für Schweden tritt die Soul- und Gospel-Gruppe The Mamas („Move“) an, für Russland die selbstironische Punk-Pop-RaveBand Little Big aus Sankt Petersburg („Uno“).
Auch Ben Dolic, der für Deutschland ins Rennen gegangen wäre, singt sein Lied „Violent Thing“. Einige der Auftritt werden live absolviert – ohne Publikum. Dazu kommen Aufnahmen der schönsten, berührendsten und schrecklichsten Auftritte dieser Länder aus den vergangenen 64 Jahren ESC-Geschichte. Die Zuschauer entscheiden am Ende des Abends darüber, wer gewinnt – Dolic steht allerdings nicht zur Abstimmung. Währenddessen
darf Michael Schulte, der 2018 den vierten Platz beim ESC belegte, noch einmal ran.
Nach der Show wird weitergefeiert. Denn ab 21.55 Uhr zeigt das Erste aus Hilversum den niederländischen ESC-Ersatz „Europe Shine A Light“. Damit sollen die Künstler geehrt werden, die nun nicht zum Zuge kommen. Zwei Stunden lang gibt es Musikvideos, Live-Schalten in mehrere Länder und Überraschungsauftritte ehemaliger ESC-Teilnehmer. Es moderiert unter anderem der Klubbb3-Sänger Jan Smit. Abgestimmt wird nicht.
Wem das alles zu altbacken daherkommt, der kann parallel auf ProSieben verfolgen, wie Song-Contest-Altmeister Stefan Raab sich einen alternativen Grand Prix vorstellt. Die Erwartungen sind hoch, gilt er doch als Stratege hinter dem deutschen ESC-Sieg von Lena Meyer-Landrut 2010. Und Raab liefert: Dragqueen Conchita Wurst (31), selbst ESC-Gewinnerin, und Steven Gätjen (47) präsentieren live aus Köln den „Free European Song Contest“(20.15 Uhr) von ProSieben.
Dort gehen mindestens 15 Länder ins Rennen, von Kasachstan über Israel bis Großbritannien – und auch Deutschland. Allerdings vertreten von Künstlern, die in Deutschland leben und einen Bezug zum entsprechenden Land haben. Am Donnerstag gab der Sender einige Namen preis. So startet Sarah Lombardi für Italien, Mike Singer für Kasachstan, Vanessa Mai für Kroatien, Josh für Österreich und Eko Fresh mit Umut Timur für die Türkei. Wer für Deutschland singen soll, bleibt noch ein Geheimnis – hartnäckigen Gerüchten zufolge soll es Raab selbst sein. Was eine mittelgroße Sensation wäre, ist er doch seit seinem TV-Rückzug im Jahr 2015 nicht mehr öffentlich aufgetreten. Auch bei der ESC-Show wollte er eigentlich als Produzent im Hintergrund bleiben.
Am Ende des Abends wird – ganz klassisch – quer durch Europa geschaltet, um die Punkte einzusammeln. Das soll originales ESC-Flair vermitteln, zumal die Wertung genauso gestaffelt ist. In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden die Punkte per Zuschauervoting vergeben. In den anderen Ländern vergibt eine Art Jury die Wertung.
Raabs ESC-Variante soll zudem eine dauerhafte Einrichtung werden, verkündete ProSieben-Chef Daniel Rosemann. „Wir haben immer gesagt, wir gründen den ‚FreeESC` – man gründet nichts für einmal, man gründet für immer“, sagte er. Ob künftig immer parallel zum ESC-Finale gesendet wird, blieb aber offen.
Wer nach dieser geballten musikalischen Schlager-Offensive noch nicht genug hat, für den hält die ARD noch ein Schmankerl parat. Ab kurz nach Mitternacht zeigt der Sender noch einmal das Finale in Oslo von 2010, aus dem Lena mit „Satellite“als Sieger hervorging. Mehr ESC geht nun wirklich nicht.