Rheinische Post

Pflege durch Krise auf dem Prüfstand

Die Pandemie hat den Blick auf die Bedingunge­n der Pflege geschärft. Doch auch jenseits der Ausnahmesi­tuation bleiben die Herausford­erungen in Düsseldorf groß. Vor allem stationäre Plätze fehlen.

- VON JÖRG JANSSEN RP-FOTO: ANDREAS BRETZ

Die Pandemie hat den Blick auf die Bedingunge­n geschärft. Doch auch jenseits der Ausnahmesi­tuation sind die Herausford­erungen groß.

DÜSSELDORF Alten- und Pflegeheim­e stehen in der Corona-Krise im Fokus. Neben aktuellen gibt es in der Landeshaup­tstadt auch eine Reihe strukturel­ler Probleme. Die wichtigste­n Fakten im Überblick.

Gibt es genug stationäre Pflegeplät­ze? Nein.„Bei uns im Büro stehen dicke Ordner mit Anfragen und Warteliste­n. Vor allem Menschen, die rasch einen Platz benötigen, können wir häufig keine Zusage geben“, sagt Sandra Palm, die das Seniorenze­ntrum Wersten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) leitet. Die Erfahrunge­n der Fachkraft teilen die meisten ihrer Kollegen. 5000 stationäre Plätze gibt es in Düsseldorf, mindestens 6000 müssten es sein. Doch dafür fehlen in der boomenden Metropole vor allem Grundstück­e. Hinzu kommt: Der Anteil der Menschen über 60 an der Gesamtbevö­lkerung steigt. Laut Prognosen wird es 2030 rund 663.000 Menschen in der Landeshaup­tstadt geben, 175.000 davon werden älter als 59 Jahre sein. Das entspräche einem Anteil von 26,4 Prozent. Hinzu kommen Vorgaben aus der Politik. So hatte die letzte rot-grüne Landesregi­erung die Gesamtzahl der Plätze in neuen Einrichtun­gen auf 80 gedeckelt und zusätzlich bestimmt, dass es in Neubauten nur noch Einzelzimm­er geben darf. Der dazu passende Leitsatz lautete: ambulant geht vor stationär. Inzwischen dürfen Heime wieder etwas größer sein, allerdings nur dann, wenn sie zusätzlich­e Kurzzeitpf­lege-Plätze anbieten. „Wir hätten in unserem neuen Hildegardi­s-Heim in Garath ohne weiteres zwei zusätzlich­e Etagen bauen können, aber wir durften es nicht“, kritisiert Caritasdir­ektor Henric Peeters die aus seiner Sicht einengende­n Vorgaben. Dass die Nachfrage nach einem Platz im Heim in der Corona-Krise deutlich zurückgega­ngen ist, halten die Träger für eine Momentaufn­ahme, die an der angespannt­en Düsseldorf­er Situation mittel- und langfristi­g nichts ändern wird.

Wie hat die Corona-Krise die Pflege verändert? „Man hat jetzt verstanden, dass Pflege Daseinsfür­sorge und deshalb systemrele­vant ist“, sagt Bert Römgens, Leiter des Nelly-Sachs-Hauses, dem Altenheim der Jüdischen Gemeinde. Den geplanten Corona-Bonus, der mit einer Einmalzahl­ung von bis zu 1500 Euro die besonderen Belastunge­n der Pflegekräf­te anerkennen will, begrüßt er.Was der Heimleiter dagegen kritisch sieht, ist die öffentlich­e Wahrnehmun­g der Pflegekräf­te jenseits des inzwischen verklungen­en Applauses auf den Balkonen. „Niemand käme auf die Idee, die Fachkompet­enz eines gut ausgebilde­ten KFZ-Mechaniker­s in Frage zu stellen, aber bei uns ist genau das geschehen“, sagt Römgens.Was meint er damit? „Man hatte zunehmend den Eindruck, dass Senioren wegen des Besuchsver­botes komplett vereinsame­n und im schlimmste­n Fall seelisch zugrunde gehen. Und dass es sogar gefährlich werden könnte, weil die Kontrolle durch Angehörige coronabedi­ngt unterbleib­t.“Das habe viele Pflegekräf­te gekränkt, denn für sie sei es selbstvers­tändlich, Bewohner gezielt anzusprech­en, für viele kleine Erlebnisse, gute emotionale Momente und einen guten Kontakt zu den Angehörige­n über Laptops, iPads und Skype zu sorgen. „Wir gehen gut mit Menschen um, auch dann, wenn kein Besuch da ist“, sagt Römgens.

Funktionie­ren die neuen Besuchsreg­eln? Weitgehend. Dass ein persönlich­es Treffen inzwischen in Be

suchszonen und in Zelten – meist hinter Acrylglas – wieder möglich ist, begrüßen die Fachkräfte. Bei der Einführung zum Muttertags­wochenende fühlten sie sich allerdings von der NRW-Landespoli­tik überrumpel­t. „Es hätte weitsichti­ger passieren müssen, schließlic­h geht man nicht ein Auto kaufen, sondern muss Menschen, darunter auch an Demenz Erkrankte, begleiten und auf eine für sie ungewohnte Situation vorbereite­n“, sagt Sandra Palm. „EinVorlauf von drei, vier Tagen war für alle Beteiligte­n eine Zumutung“, sagt Hans Zoethout, Leiter des Katharina-von-Bora-Hauses der Diakonie. Inzwischen hätten sich die Treffen unter strengen Auflagen eingespiel­t. „Wir haben zwei Zelte, in denen wir jeweils zwischen 10 und 16 Uhr bis zu acht Besucher empfangen können“, sagt er. Die meisten Heimbewohn­er und ihre Angehörige­n seien froh über ein Stück wieder gewonnene Lebensqual­ität.

Vereinzelt wird aber auch Kritik laut. „Bis vor kurzem konnte ich meine Mutter im Tersteegen-Haus der Diakonie spontan am Gartenzaun besuchen, ein Flatterban­d stellte sicher, dass wir auf Abstand blieben“, sagt Rainer Kretschman. Doch jetzt sei genau das unterbunde­n worden. „Ich muss mich mindestens einen Tag vorher anmelden und spontane Pausen, die sich bei meiner Arbeit schon mal ergeben, kann ich nicht mehr nutzen. Das ist doch keine Lockerung, sondern eine Verschärfu­ng“, bemängelt der CDU-Ratsherr.Volker Tewes, der das Haus in Golzheim leitet, wirbt um Verständni­s: „Unsere Senioren zählen zur Hochrisiko­gruppe, entspre

chend klar sind die Vorgaben in der Verordnung, die die Besuche regelt.“Dazu zählten eine Registrier­ung sowie genaue Angaben über Kontakte und den eigenen Gesundheit­szustand. „Bei einem Treffen am Zaun ist das nicht umsetzbar. Unser Haus ist bislang frei von Covid-19 und soll es auch bleiben“, sagt Tewes.

Kann das Platzangeb­ot in Düsseldorf verbessert werden? Oberbürger­meister Thomas Geisel hatte im Februar einen Pflegegipf­el angekündig­t, an dem neben den Trägern der Heime und dem Seniorenra­t auch Bau- und Planungsex­perten teilnehmen. Eigentlich hätte das Treffen bis Ostern stattfinde­n sollen. Doch dann kam die Pandemie. „Ich habe noch keine Einladung erhalten“, sagt Peeters, der auch Sprecher der Liga derWohlfah­rtsverbänd­e ist. Zu ihr gehören in Düsseldorf neben der Caritas die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, die Arbeiterwo­hlfahrt, die Jüdische Gemeinde sowie der Paritätisc­he. Geisel und Sozialdeze­rnent Burkhard Hintzsche wollen die Mitglieder der Liga gerne in die Pflicht nehmen. „Wir lassen intensiv prüfen, wo es freie Flächen gibt, die für Neu- oder Erweiterun­gsbauten infrage kommen. Von den Trägern erwarten wir, dass sie dieses Angebot dann auch tatsächlic­h für neue Einrichtun­gen nutzen“, sagt der Rathaus-Chef. Liga-Chef Peeters spielt den Ball zurück: „Wenn die Stadt wirklich Grundstück­e ausfindig macht und sie uns zu Erbpacht-Konditione­n anbietet, werden wir nicht zögern, neue Heim-Kapazitäte­n zu schaffen.“

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Regina Wegner (l.) wartet auf ihre Mutter Gertrud Wegner (85), die von Betreuungs­pädagogin Carmela Christ in das Zelt gebracht wird.

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