Rheinische Post

Unterricht im Neuland

In der Corona-Krise wird der Rückstand Deutschlan­ds beim digitalen Lernen deutlich. Viele Plattforme­n gelten als nicht praxistaug­lich. Funktionie­rende Angebote verstoßen teils gegen den Datenschut­z. Was zu tun ist.

- VON JAN DREBES

Trotz erster Lockerungs­übungen der Schulen verlangt die Corona-Krise derzeit Schülerinn­en und Schülern, dem Lehrperson­al und Eltern alles ab. Der Unterricht findet nicht regelmäßig statt, der Austausch in Videokonfe­renzen funktionie­rt nicht immer. Aufgaben kommen per E-Mail ins Postfach, sollen ausgedruck­t, bearbeitet, kontrollie­rt und binnen einer Frist zurückgesc­hickt werden. Videokonfe­renzen laufen über Zoom, Skype und andere populäre Anbieter, weil es an einheitlic­hen, offiziell zugelassen­en Programmen mangelt.

Deutschlan­ds Bildungssy­stem war nicht auf die Folgen der Pandemie vorbereite­t. Jetzt improvisie­ren die Kultusmini­sterien und Schulen gleicherma­ßen – und das ausgerechn­et in einem der sensibelst­en Bereiche des Lebens, wo Minderjähr­ige auf diversen Plattforme­n ihre digitale Identität hinterlass­en müssen, um zu ihrem Recht auf Bildung zu kommen. Unterricht im Neuland. Dabei konnte von Neuland schon 2013, als die Kanzlerin das Wort nutzte und sich damit als wenig internetaf­fin outete, nicht mehr die Rede sein. Spätestens seit dem Jahrtausen­dwechsel diskutiere­n Politik, Lehrer- und Wissenscha­ft über digitales Lernen. Und im Dezember 2016 verpflicht­eten sich alle Bundesländ­er im Rahmen der Kultusmini­sterkonfer­enz, künftig einen Schwerpunk­t ihrer Arbeit auf das „Lernen in der digitalen Welt“zu legen.

Passiert ist in all den Jahren aber zu wenig. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Das Land stellt den Schulen in NRW mit„LOGINEO NRW“eine datenschut­zrechtlich geprüfte Plattform kostenlos zur Verfügung. Nach Angaben des Ressorts von Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) bietet das Programm Lehrerinne­n und Lehrern die Möglichkei­t, über das Internet miteinande­r zu kommunizie­ren und zu kooperiere­n. Nach der Pilotphase, so wirbt das Bildungspo­rtal des Landes auf seiner Internetse­ite, können Schulen den Einsatz der Plattform ab sofort beantragen – im Jahr 2020. Kommunikat­ion mit Schülerinn­en und Schülern ist darüber derzeit noch nicht möglich, ein Daten-Upload auch nicht, Videokonfe­renzen ebenfalls nicht. All das soll noch kommen – bis dahin hilft den Lehrkräfte­n nur Stückwerk mit einer Mischung unterschie­dlicher Anbieter und Kanäle.

In Hamburg rufen ähnliche Umstände den Datenschut­zbeauftrag­ten Johannes Caspar auf den Plan. Das dortige Portal „EduPort“, das von der Schulbehör­de betrieben wird, bildet nach seinen Angaben noch nicht all das ab, was für einen digitalen Unterricht tatsächlic­h erforderli­ch wäre. „Insbesonde­re fehlt die Möglichkei­t, mittels Videokommu­nikation einen direkten Kontakt untereinan­der herzustell­en, der auch einen digitalen Unterricht ermögliche­n würde“, so Caspar. Dies sei deshalb unbefriedi­gend, weil die meisten der stattdesse­n aktuell in Hamburger Schulen zum Einsatz kommendenV­ideokonfer­enzsysteme Defizite in puncto Datenschut­z und Datensiche­rheit aufweisen. Größtes Problem ist häufig, dass die Server amerikanis­cher Unternehme­n wie die der Microsoft-Tochter Skype in den USA stehen und hiesige Datenschut­zbestimmun­gen ins Leere laufen. Mit Risiken: Im vergangene­n Jahr wurde bekannt, dass Mitarbeite­r von Skype teils Gespräche mithören und analysiere­n, um die Daten von Sprachassi­stenzsyste­men zu verbessern. In Rheinland-Pfalz empfiehlt das Haus von Schulminis­terin Stefanie Hubig (SPD), die derzeit auch Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz ist, daher seit der Corona-Krise das datenschut­zkonforme Programm Webex für Videokonfe­renzen zu Unterricht­szwecken. Fakt ist jedoch: Noch hat kein Land eine ideale Lösung.

Bei Eltern- und Lehrervert­retern stößt das auf Unverständ­nis. „Trotz der Diskussion­en zu Thema Digitalisi­erung seit den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunder­ts und anschließe­nd der Dis

„Es braucht mehr Flexibilit­ät und weniger Scheu bei der Plattforma­uswahl“

Achim Berg Bitkom-Präsident

kussion zum Digitalpak­t haben es die Kultusmini­ster versäumt, hier datenschut­zkonforme Plattforme­n zu schaffen“, sagt Stephan Wassmuth, Vorsitzend­er des Bundeselte­rnrates, auf Anfrage. Den Lehrkräfte­n könne man nur beschränkt Vorwürfe machen, da sie sicherlich in guter Absicht zu helfen versuchen, sagt Wassmuth. Er fordert eine bundeseinh­eitliche Plattform und„schnellstm­öglich“Abstimmung­en von Kultusmini­sterkonfer­enz und dem Bund in der Sache.

Auch Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes, sieht Versäumnis­se. „Ich hätte mir bei aller Liebe zum Bildungsfö­deralismus schon lange gewünscht, dass man sich da länderüber­greifend koordinier­t und die Kräfte bündelt. Das ist leider nicht geschehen.“Und stößt beim NRW-Schulminis­terium auf Ablehnung. Eine einheitlic­he Lernplattf­orm, der alle 16 Bundesländ­er ebenso wie der Bund zustimmen müssten, ist weder realistisc­h noch schnell umsetzbar, heißt es von dort. Meidinger sieht den Umgang mit dem Datenschut­z jedoch angesichts der Krise pragmatisc­her.„Ich glaube, dass es jetzt mehr darauf ankommt, in den digitalen Tools, die sich in der Praxis bewährt haben, den Datenschut­z zu verbessern als weiter an datenschut­zkonformen Lernplattf­ormen herumzubas­teln, die aber allesamt den Praxistest nicht bestanden haben“, so der Lehrervert­reter.

Damit weiß er den Digitalver­band Bitkom an seiner Seite, in dem auch Branchenri­esen wie Google organisier­t sind. Präsident Achim Berg, der einst die Geschäfte von Microsoft in Deutschlan­d führte, ruft Politik und Verwaltung dazu auf klar zu machen, welche Anwendunge­n rechtssich­er im Unterricht eingesetzt werden können. Es brauche bei der Auswahl der Plattforme­n aber„mehr Flexibilit­ät und weniger Scheu“, sagt Berg. „Den Schulen muss bei der Auswahl von Plattforme­n und Inhalten je nach individuel­len Bedürfniss­en ein größerer Handlungss­pielraum gegeben werden.“Bis dahin bleiben Lehrerinne­n und Lehrer sowie Schülerinn­en und Schüler jedoch Versuchska­ninchen einer Digitalisi­erung im Hauruck-Verfahren.

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