Christen und Juden als Sündenböcke
Ein einflussreiches Magazin aus dem Erdogan-Umfeld suggeriert, dass nicht-muslimische Religionen für das Coronavirus verantwortlich sind. Die Betroffenen fürchten nun rassistische Übergriffe.
ISTANBUL Mit einem dramatischen Appell haben nicht-muslimische Gemeinschaften in der Türkei vor „rassistischen Übergriffen“auf ihre Mitglieder gewarnt und die Regierung unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan um Schutz gebeten. In der vergangenen Woche forderten das Rabbinat der türkisch-jüdischen Gemeinde, der griechisch-orthodoxe Patriarch von Istanbul und das armenisch-orthodoxe Patriarchat Ankara auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ihrer Sicherheit zu ergreifen. Anlass der gemeinsamen Erklärung war eine Hetzkampagne
„Die Verleumdung der Zeitschrift hat uns zutiefst besorgt“
Hüseyin Hatemi Jura-Professor
der regierungsnahen Zeitschrift „Gercek Hayat“(Echtes Leben) gegen die religiösen Minderheiten. Diese befürchten, in der durch die Corona-Pandemie verstärktenWirtschaftskrise als Sündenböcke missbraucht zu werden.
Das einflussreiche Magazin hatte die christlichen und jüdischen Gemeinden beschuldigt, mit den Putschisten von 2016 gemeinsame Sache gemacht zu haben. Das 176-seitige Sonderheft trägt den Titel „Fetö: Die 100-jährige Geschichte der bösartigsten Terrororganisation“. Als Fetö bezeichnet Erdogan die verbotene Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, dem er vorwirft, Drahtzieher des gescheiterten Militärputsches gewesen zu sein. Mehr als 50.000 angebliche Gülenisten wurden inhaftiert, über 150.000 aus dem Staatsdienst entfernt. Als „Fetö“benannt zu werden, bedeutet soziale Ächtung bis hin zu gewaltsamen Übergriffen.
Die Broschüre behauptet, dass die islamische Bewegung eine hundertjährige (Vor-)Geschichte besitze, die auf christliche und jüdischeWurzeln zurückgehe – was faktisch Unsinn ist. Auf ihrem Titel druckte sie Fotos des türkisch-jüdischen Oberrabbiners, des griechisch-orthodoxen Patriarchen von Istanbul, des verstorbenen armenischen Patriarchen und anderer Führer religiöser Minderheiten, darunter auch des 1981 von einem türkischen Attentäter schwer verletzten Papstes Johannes Paul II. – sie alle werden als „Fetös Diener“und Mitverschwörer bezeichnet. Das Heft soll bis zum September an türkischen Kiosken ausliegen.
Die Vertreter der nicht-muslimischen Minderheiten befürchten, dass sie mit der Publikation zur Zielscheibe gemacht würden. Die Bedrohung ist real, denn es handelt sich nicht um eine kleineVerschwörungspostille, sondern um eine ideologische Publikation aus dem Umfeld der islamischen Regierungspartei AKP mit direkter Verbindung zur Staatsspitze. „Gercek Hayat“erscheint imVerlag der Mediengruppe der Familie des türkischen Finanzministers und Erdogan-Schwiegersohns Berat Albayrat. Erdogan selbst sei vorab über das Heftthema informiert worden, schrieb der prominente Zeitungskolumnist MuratYetkin in seinem Blog unter Berufung auf AKP-Quellen. LautYetkin enthält die Hetzschrift keinen Beweis für die erhobenenVorwürfe, sondern argumentiert lediglich mit dem von den Gülenisten forcierten „interreligiösen Dialog“mit Christen und Juden.
Dass Erdogans innerer Kreis mit dem dubiosen Machwerk zu tun habe, legte auch der türkisch-armenische Abgeordnete Garo Paylan von der oppositionellen prokurdischen Linkspartei HDP nahe, der am Donnerstag eine parlamentarische Anfrage zu der Publikation stellte. Die Zeitschrift schüre Hass gegen die nicht-muslimischen Minderheiten, sagte Paylan.
Auf Twitter erinnerte der bekannte emeritierte türkische Jura-Professor Hüseyin Hatemi an das verheerende anti-griechische Pogrom von 1955 in Istanbul mit 30 Toten und Dutzenden zerstörter Kirchen. Die Übergriffe geschahen aufgrund gezielt gestreuter Verleumdungen in einer politischen Krise. „Die verantwortungslose Verleumdung der Zeitschrift „Gercek Hayat“gegen die religiösen Führer der christlichen und jüdischen Gemeinde hat unsere Bürger in diesen Gemeinden zutiefst besorgt“, schrieb Hatemi.
Auch in der aktuellen, durch Corona verstärkten Wirtschaftskrise werden anti-christliche und anti-jüdische Impulse wieder stärker wahrnehmbar. Etwa gleichzeitig mit der „Gercek Hayat“-Publikation wurde ein Brandanschlag auf eine armenische Kirche in Istanbul verübt – angeblich von einem „geistig Verwirrten“, der im Polizeiverhör als Motiv nannte, dass von dort aus „das Coronavirus in die Türkei gekommen“sei.
An mehrere andere Kirchen der Metropole schmierten Unbekannte Todesdrohungen. Stellten Christen und Juden im Osmanischen Reich noch rund ein Viertel der Bevölkerung, so bilden sie in der heutigen muslimischen Türkei mit knapp 120.000 Personen eine winzige Minderheit von weniger als 0,2 Prozent.