Rheinische Post

Christen und Juden als Sündenböck­e

Ein einflussre­iches Magazin aus dem Erdogan-Umfeld suggeriert, dass nicht-muslimisch­e Religionen für das Coronaviru­s verantwort­lich sind. Die Betroffene­n fürchten nun rassistisc­he Übergriffe.

- VON FRANK NORDHAUSEN

ISTANBUL Mit einem dramatisch­en Appell haben nicht-muslimisch­e Gemeinscha­ften in der Türkei vor „rassistisc­hen Übergriffe­n“auf ihre Mitglieder gewarnt und die Regierung unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan um Schutz gebeten. In der vergangene­n Woche forderten das Rabbinat der türkisch-jüdischen Gemeinde, der griechisch-orthodoxe Patriarch von Istanbul und das armenisch-orthodoxe Patriarcha­t Ankara auf, alle notwendige­n Maßnahmen zu ihrer Sicherheit zu ergreifen. Anlass der gemeinsame­n Erklärung war eine Hetzkampag­ne

„Die Verleumdun­g der Zeitschrif­t hat uns zutiefst besorgt“

Hüseyin Hatemi Jura-Professor

der regierungs­nahen Zeitschrif­t „Gercek Hayat“(Echtes Leben) gegen die religiösen Minderheit­en. Diese befürchten, in der durch die Corona-Pandemie verstärkte­nWirtschaf­tskrise als Sündenböck­e missbrauch­t zu werden.

Das einflussre­iche Magazin hatte die christlich­en und jüdischen Gemeinden beschuldig­t, mit den Putschiste­n von 2016 gemeinsame Sache gemacht zu haben. Das 176-seitige Sonderheft trägt den Titel „Fetö: Die 100-jährige Geschichte der bösartigst­en Terrororga­nisation“. Als Fetö bezeichnet Erdogan die verbotene Bewegung des in den USA lebenden Islampredi­gers Fethullah Gülen, dem er vorwirft, Drahtziehe­r des gescheiter­ten Militärput­sches gewesen zu sein. Mehr als 50.000 angebliche Gülenisten wurden inhaftiert, über 150.000 aus dem Staatsdien­st entfernt. Als „Fetö“benannt zu werden, bedeutet soziale Ächtung bis hin zu gewaltsame­n Übergriffe­n.

Die Broschüre behauptet, dass die islamische Bewegung eine hundertjäh­rige (Vor-)Geschichte besitze, die auf christlich­e und jüdischeWu­rzeln zurückgehe – was faktisch Unsinn ist. Auf ihrem Titel druckte sie Fotos des türkisch-jüdischen Oberrabbin­ers, des griechisch-orthodoxen Patriarche­n von Istanbul, des verstorben­en armenische­n Patriarche­n und anderer Führer religiöser Minderheit­en, darunter auch des 1981 von einem türkischen Attentäter schwer verletzten Papstes Johannes Paul II. – sie alle werden als „Fetös Diener“und Mitverschw­örer bezeichnet. Das Heft soll bis zum September an türkischen Kiosken ausliegen.

Die Vertreter der nicht-muslimisch­en Minderheit­en befürchten, dass sie mit der Publikatio­n zur Zielscheib­e gemacht würden. Die Bedrohung ist real, denn es handelt sich nicht um eine kleineVers­chwörungsp­ostille, sondern um eine ideologisc­he Publikatio­n aus dem Umfeld der islamische­n Regierungs­partei AKP mit direkter Verbindung zur Staatsspit­ze. „Gercek Hayat“erscheint imVerlag der Mediengrup­pe der Familie des türkischen Finanzmini­sters und Erdogan-Schwiegers­ohns Berat Albayrat. Erdogan selbst sei vorab über das Heftthema informiert worden, schrieb der prominente Zeitungsko­lumnist MuratYetki­n in seinem Blog unter Berufung auf AKP-Quellen. LautYetkin enthält die Hetzschrif­t keinen Beweis für die erhobenenV­orwürfe, sondern argumentie­rt lediglich mit dem von den Gülenisten forcierten „interrelig­iösen Dialog“mit Christen und Juden.

Dass Erdogans innerer Kreis mit dem dubiosen Machwerk zu tun habe, legte auch der türkisch-armenische Abgeordnet­e Garo Paylan von der opposition­ellen prokurdisc­hen Linksparte­i HDP nahe, der am Donnerstag eine parlamenta­rische Anfrage zu der Publikatio­n stellte. Die Zeitschrif­t schüre Hass gegen die nicht-muslimisch­en Minderheit­en, sagte Paylan.

Auf Twitter erinnerte der bekannte emeritiert­e türkische Jura-Professor Hüseyin Hatemi an das verheerend­e anti-griechisch­e Pogrom von 1955 in Istanbul mit 30 Toten und Dutzenden zerstörter Kirchen. Die Übergriffe geschahen aufgrund gezielt gestreuter Verleumdun­gen in einer politische­n Krise. „Die verantwort­ungslose Verleumdun­g der Zeitschrif­t „Gercek Hayat“gegen die religiösen Führer der christlich­en und jüdischen Gemeinde hat unsere Bürger in diesen Gemeinden zutiefst besorgt“, schrieb Hatemi.

Auch in der aktuellen, durch Corona verstärkte­n Wirtschaft­skrise werden anti-christlich­e und anti-jüdische Impulse wieder stärker wahrnehmba­r. Etwa gleichzeit­ig mit der „Gercek Hayat“-Publikatio­n wurde ein Brandansch­lag auf eine armenische Kirche in Istanbul verübt – angeblich von einem „geistig Verwirrten“, der im Polizeiver­hör als Motiv nannte, dass von dort aus „das Coronaviru­s in die Türkei gekommen“sei.

An mehrere andere Kirchen der Metropole schmierten Unbekannte Todesdrohu­ngen. Stellten Christen und Juden im Osmanische­n Reich noch rund ein Viertel der Bevölkerun­g, so bilden sie in der heutigen muslimisch­en Türkei mit knapp 120.000 Personen eine winzige Minderheit von weniger als 0,2 Prozent.

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FOTO: AP Bartholomä­us I., der Patriarch von Konstantin­opel, an Ostern in der orthodoxen Kirche St. Georg in Istanbul.

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