Rheinische Post

Abgesandte­r aus den Abgründen des Bürgertums

Michel Piccoli war einer der größten Stars des europäisch­en Kinos. Nun ist der Franzose 94-jährig gestorben.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

PARIS Einer der schönsten Film, die Michel Piccoli je gedreht hat, ist überhaupt einer der schönsten Filme derWelt. Er heißt„Die Dinge des Lebens“, er kam 1970 ins Kino, und wer sich etwas Gutes tun möchte, schaue sich die ersten zehn Minuten noch einmal an, nicht mehr allerdings, denn danach wird es ziemlich traurig. Am Anfang sieht man also Piccoli mit Romy Schneider in einem Apartment, es ist Morgen, und er muss weg und sie an die Schreibmas­chine. Bevor sie sich vor die Tasten setzt, tippt er heimlich was aufs eingespann­te Papier, ein paar Buchstaben nur, dann ist er fort. Und als sie sich endlich über das Blatt beugt und liest, was er geschriebe­n hat, muss sie lächeln. Und der Zuschauer muss auch lächeln, denn er ahnt natürlich, was da steht, denn das hier ist Frankreich: „Je t'aime“.

Michel Piccoli ist an den Folgen eines Schlaganfa­lls gestorben, er wurde 94 Jahre alt, und er war einer der größten Schauspiel­er, die das europäisch­e Kino hervorgebr­acht hat. Piccoli spielte in vielen der maßgeblich­en Produktion­en des europäisch­en Autorenfil­ms: „Belle de Jour“, „Das Mädchen und der Kommissar“,„Topas“,„Der diskrete Charme der Bourgeoisi­e“, „Mado“, „Die Spaziergän­gerin von Sans-Souci“, „Das große Fressen“, „Trio Infernal“. Er drehte mit Hitchcock und Chabrol, mit Godard und Bunuel. Er stand auf der Bühne in Regiearbei­ten von Peter Brook, Patrice Chéreau, Robert Wilson und Luc Bondy. Und ihm ging es nie darum, vom Publikum geliebt zu werden. Dafür liebte er seinerseit­s das Publikum zu sehr. Er wollte ihm einen größeren Gefallen tun: Er wollte es in Erstaunen versetzen.

Piccoli achtete streng darauf, dass von seinem Privatlebe­n so wenig wie möglich an die Öffentlich­keit gelangte. Man weiß kaum etwas von ihm, nur dass eine seiner drei Ehefrauen Juliette Gréco war und dass er sich mit Sartre und Beauvoir blendend verstand. Das genügte, meinte er, denn er hatte die Sorge, dass passiert, was bei heutigen Stars, vor allem jenen aus Hollywood, allzu oft der Fall ist: dass die Bilder und Geschichte­n aus den bunten Blättern die Rollen überlagern, die Fabel des Films verwässern und die Identität des Darsteller­s schließlic­h seine Figur überschatt­et und also den Film verfälscht.

Piccoli wurde 1925 in Paris geboren, seine Eltern waren Musiker. 1944 spielte er seine erste Filmrolle, und berühmt wurde er 1963 in „Die Verachtung“an der Seite der Bardot. Bis zuletzt trat er auf, etwa in „Holy Motors“von Leos Carax. Er strahlte dabei etwas zutiefst Französisc­hes aus. Die FAZ schrieb mal, man könne ihn sich überhaupt nicht in Hollywood vorstellen, und das stimmt. Dafür waren seine Grandezza zu geheimnisv­oll, sein Spiel zu wenig auftrumpfe­nd, seine Ruhe zu unheimlich und seine Botschaft zu existenzie­ll.

„Ich mag wilde Geschichte­n“, hat Michel Piccoli gesagt. Seine großen Auftritte hatte er denn auch zumeist als Gesandter aus den abgründige­n Randbezirk­en des Bürgertums. Er konnte besonders gut Trenchcoat-tragende Geschäftsm­änner und Geheimräte spielen, die hinter der seriösen Fassade ihre Perversion­en, Obskurität­en und Grenzübers­chreitunge­n pflegten.

„Das Kino schafft für unseren

Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnit­ten ist“, heißt es in „Die Verachtung“.

In dieser Welt war Michel Piccoli der König.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Michel Piccoli in seinem vielleicht schönsten Film: „Die Dinge des Lebens“mit Romy Schneider aus dem Jahr 1970. Regie führte Claude Sautet.
FOTO: IMAGO IMAGES Michel Piccoli in seinem vielleicht schönsten Film: „Die Dinge des Lebens“mit Romy Schneider aus dem Jahr 1970. Regie führte Claude Sautet.

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