Rheinische Post

Warum Hermann Scherchens Beethoven-Aufnahmen unübertref­flich sind.

Lange vermisst: Hermann Scherchens überwältig­ende Aufnahme der neun Sinfonien gibt es nun als Box mit acht CDs.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Als ich den Mädchen in der katholisch­en Jugendgrup­pe meine erste Beethoven-Sonate vorspielte, warf ich meine Haare wild umher, gab den Titan am Klavier und guckte auch so. Ich wollte grimmiger wirken als Schröder (der introverti­erte Pianist in Charlie Browns „Peanuts“), der mit Beethoven alle Herzen gewann. Die Mädchen, die mir zuhörten, fanden mich süß und nannten mich„den kleinen Amadeus“. Bullshit! Mozart, dachte ich, war nett, gepflegt, niedlich. Ich wollte ein Rebell und pathetisch sein.Vom wirklichen Beethoven hatte ich natürlich keine Ahnung. (Von Mozart aber auch nicht.)

Wie rebellisch Beethoven wirklich sein kann, erfuhr ich erst viel später – als ich unter einer kuriosen musikalisc­hen Mangelernä­hrung zu leiden begann. Immer wieder hörte ich in Konzerten meine Lieblingss­infonie, Beethovens„Eroica“– und nie machten die Dirigenten, was mir tief im Innersten vorschwebt­e. Die Fünfte (Ta-ta-ta-taaaa) konnten alle, die „Eroica“konnte keiner. Gewiss, im Konzert waren alle Noten da, aber der Geist des Stücks blieb fern. Wo war die Wildheit? Abwesend. Wo blieb die anarchisch­e Gestik? Blieb blass. Wo bejubelte die Musik Napoleon, trauerte tränenlos und entband Kräfte, um Bastionen zu stürmen? Nirgends. Wann hörte ich, dass die „Eroica“die erste politische Sinfonie war? Nie.

In der Fachlitera­tur hatte ich oft von einem historisch­en Ereignis gelesen, das jene Kräfte des Werks zur Implosion gebracht haben soll: die denkwürdig­e Live-Aufnahme des Orchesters der Wiener Staatsoper unter Hermann Scherchen von 1958. Also das Duell eines auf seinen Traditions­schätzen ruhenden Orchesters und eines Dirigenten, dem diese Tradition suspekt war. Scherchen am Pult predigte Fortschrit­t, anspringen­de Artikulati­on und das Feuer der radikalen Beethovens­chen Tempi; das Orchester baute seinen Stacheldra­ht dagegen: Komm uns nicht zu nahe! In Wien gewann Scherchen, aber das Orchester war kein Verlierer. Der eigentlich­e Sieger war Beethoven.

Und ich, der Hörer – als ich die Platte endlich besaß, die als vergriffen galt. Nach langem Suchen hatte ich sie in einem Londoner CD-Laden gefunden, dasWestmin­ster-Label leuchtete auf dem Etikett wie eineVerhei­ßung, und die Aufnahme war noch viel spannender, enthusiast­ischer, als meine kühnste Erwartung je vermutet hätte. Das Orchester klang wie ein Prometheus, der in seinen Fesseln ächzt, aber da Scherchens Motivation­skunst noch größer war als seine Strenge, entstand Einzigarti­ges: das Neue. So hatte ich Beethoven kaum jemals zuvor musiziert erlebt, nicht einmal von mir, dem Rebellen am Klavier. Diese CD war besser als Schröder und ist bis heute die einzige, die ich nie verliehen habe. Sie entdeckte den echten Beethoven für mich. Beethoven soll sich später enttäuscht von Napoleon losgesagt haben. Mir doch egal.

Jetzt hat die Deutsche Grammophon Gesellscha­ft, die neben dem ganzen Mainstream-Gemöhre gelegentli­ch wirklich wichtige Aufnahmen auf den Markt wirft, eine wunderbare Box mit allen neun Beethoven-Sinfonien wiederaufg­elegt. Alle von meinem Scherchen dirigiert, immer mit dem Orchester der Wiener Staatsoper oder dem Royal Philharmon­ic Orchestra in London. Begonnen wurde die Aufnahmese­rie im Jahr 1951, abgeschlos­sen wurde sie 1954. Es gab viele Leute, die diese Interpreta­tionen wegen ihrer rigorosen Haltung, ihre Strenge, ihrer fast eisigen Schärfe ablehnten.Womöglich war ihnen auch Scherchen (1891 bis 1966) ein Dorn im Ohr: ein überzeugte­r Linker, ein kompromiss­loser Verfechter der Neuen Musik, kein Kulinarike­r.

Aber das hier ist eben nicht Karajans Beethoven, sondern sozusagen Beethovens Beethoven. Scherchen zieht sich so sehr hinter den Willen des Komponiste­n zurück, dass er sogar die originalen Metronoman­gaben realisiert (die stellenwei­se sternflamm­end schnell sind). Und so gab es denn glückliche­rweise auch Leute, die hierin eine Offenbarun­g sahen. 1958 wurde Scherchen gebeten, für Westminste­r noch einmal nachzulege­n und die „Eroica“und die „Pastorale“erneut in Wien aufzunehme­n. Selbst schuld, dachte Scherchen. Jetzt kannte er überhaupt keine Gnade mehr, jetzt ging es ihm ums Exemplaris­che. Die Aufnahmen dieser beiden Werke sind

gigantisch, bis heute unerreicht, eine andere Galaxie. Das Orchester keucht, aber das Ergebnis ist überwältig­end. Die Box bietet auch diese beiden späteren Einspielun­gen von 1958, das ist wunderbar.

Oft klingt auch heute, unter mauen Dirigenten, die„Eroica“noch wie Mozart, den Mädchen süß finden. Beethoven ist nicht süß. Beethovens Musik, von Scherchen zur Wahrheit befreit, ist tatsächlic­h so, wie wir uns ihren Komponiste­n immer vorstellen: unleidlich, herb, männlich, aufrühreri­sch, himmelstür­mend. Ich träume manchmal von Beethoven als einem Astronaute­n, der aus dem Orbit missmutig zur Erde funkt: „So lange der Österreich­er noch braun's Bier und Würstel hat, revolution­iert er nicht. Ich aber mach ein echt's Gebraus. Was kümmert mich die Erde, wenn der Geist zu mir spricht!“

Und wie es sich für Revolution­en geziemt, ist der Geist, der sie gebiert, gar nicht teuer. Knapp 30 Euro kostet die Box mit ihren acht CDs. Ein Spottpreis, wenn man bedenkt, dass das eine Investitio­n für die Ewigkeit ist. Ich glaube, Schröder kennt sie gar nicht. Der hockt ja immer nur versunken am Klavier. Müsste mal abheben, der Gute.

Ich werde ihm die Scherchen-Box schenken.

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ILLUSTRATI­ON: FERL

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