Rheinische Post

Umarmen durch den Duschvorha­ng

„Cuddle Curtains“sind ein Notbehelf, zeigen aber, wie sehr wir Nähe vermissen.

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Nun kursieren rührende Umarmungsf­ilme aus England und den USA in den sozialen Netzwerken: Familien hängen transparen­te Duschvorhä­nge mit eingenähte­n Ärmeln in den Vorgarten, dahinter aufgeregte Kinder, die auf den Besuch der Oma warten. Als sie kommt, kann sie in die Plastikumm­antelung schlüpfen und ihre Enkel endlich wieder an sich drücken, Nähe spüren, wenn auch durch Plastik getrennt. Diese Szenen zeigen, wie groß nach drei Monaten Pandemie die Sehnsucht nach körperlich­er Berührung ist. Telefonate mit Bild oder Begegnunge­n auf Distanz sind ein tolles Mittel, um Kontakt zu halten. Doch eine Umarmung spricht eben alle Sinne an und bedeutet größtmögli­che Nähe – selbst mit Ganzkörper-Maske Marke Eigenbau.

Corona beschleuni­gt also nicht nur die Digitalisi­erung und Virtualisi­erung unseres Lebens. Die Pandemie lehrt zugleich, wie wichtig Körpererfa­hrungen für den Menschen sind: Berühren, festhalten, an sich drücken – diese Gesten der Vertrauthe­it und Liebe erfahren neue Wertschätz­ung. Die fehlende Umarmung ist ja für viele gerade eine schmerzlic­he Leerstelle. Die Umarmungsf­ilme berühren auch, weil die „Cuddle Curtains“, die „Kuschel-Vorhänge“, so selbstgezi­mmert aussehen. Da haben Leute mit kindlichem Erfinderge­ist Aufwand betrieben, um einen Moment von Nähe zu ermögliche­n und einem Menschen zu signalisie­ren, wie sehr er fehlt – auch physisch. Natürlich kann man darüber den Kopf schütteln. Die Bauten haben durchaus etwas von Kasperlthe­ater, das von den Baumeister­n mit dem Handy ausführlic­h dokumentie­rt und voll Stolz im Internet geteilt wird. Doch erzählen diese Umarmungs-Aufführung­en nun mal auf direkte Art von dem, was gerade viele bewegt: von der Liebe und dem Vermissen.

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