„Das Christentum ist größer als der Kirchturm“
Der Himmelfahrtstag wäre gut geeignet als ein Outdoor-Fest. Der Feiertag aber werde, so die Bischöfin, vom Vatertag überdeckt.
HANNOVER Sie ist eine der bekanntesten Theologinnen Deutschlands: Petra Bahr, Regionalbischöfin von Hannover. Erst vor Kurzen wurde die frühere Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in den Nationalen Ethikrat berufen. Ein Gespräch über den Feiertag Christi Himmelfahrt und die Situation der Kirche in Corona-Zeiten.
Frau Bahr, was bedeutet Ihnen der Himmelfahrtstag?
PETRA BAHR Der Himmelfahrtstag, wie er sich über alte Gemälde eingeprägt hat, zeigt eine Science-Fiction-Szene: Jesus wird in den Himmel gebeamt. Die Himmelfahrszene in der Bibel zeigt aber auf eine tiefe existentielle Erfahrung: der Auferstandene, der den Jüngern ganz nahe war, entzieht sich. Er ist bei Gott. Darüber jubeln die Jünger. Das bestätigt den Glauben daran, dass die Geschichte mit Jesus in anderer Dimension weitergeht. Es entsteht aber auch eine Lücke, eine Verunsicherung bei den Jüngern und bei der frühen Kirche. Ist Gott wirklich noch nah? Oder bleibt er abwesend? Das ist ja eine Erfahrung, die in der Pandemie auch Christen nicht fremd ist. Deswegen kommt Himmelfahrt eigentlich gerade zur rechten Zeit. Das kann man abseits der Kinderbildwelten ernsthaft begehen.
An Ostern gibt es Ostereier, an Weihnachten Lebkuchen – wie begeht man denn Himmelfahrt ganz ernsthaft?
BAHR Schokoeier habe ich in diesem Jahr nicht vermisst, wohl aber die Osternacht. Der Himmelfahrtstag könnte es leichter haben als Outdoor-Fest. Der allerdings wird vom Vatertag überformt. Man hat als Bild für diesen Tag nicht die Frage des abwesenden Gottessohnes, sondern eher die des abwesenden Vaters, der mit dem Bollerwagen, Bier und Kumpeln durch die Gegend zieht und abends besoffen nach Hause kommt. Dieses Verständnis von Vaterschaft ist aber nicht gemeint, wenn die Gemeinde bekennt: Der Sohn Gottes ist jetzt „beim Vater“. Hier zeigt sich das Bild des anwesenden, sorgenden Liebenden.
Aber wie macht man das?
BAHR In dem wir uns einmal für einen Moment in die Situation der Jünger hineinbegeben. Wie fühlt sich deren Situation an? Schon die, die ganz nah dran sind, haben gemischte Gefühle, sind hin- und hergerissen zwischen Jubel und Traurigkeit, Glaube und Zweifel. Der, der ihnen Gewissheit im Leben und Sterben gibt, entzieht sich ihnen – und ist doch da, auf andere Weise. Auch wenn das nicht immer leicht auszuhalten sie. Ich finde das tröstlich angesichts des radikalen Kontrollverlustes, den wir gerade erleben, eine Zeit, die aber gleichzeitig so religiös aufgeladen ist – und wo viele Menschen Sehnsucht nach innerster Sicherheit haben.
Können Kirchen an Himmelfahrt schon richtig große Gottesdienste feiern?
BAHR Ich hoffe vor allem auf Open-Air-Gottesdienste. Bei uns in der hannoverschen Landeskirche feiern viele Gemeinden an Himmelfahrt die ersten Gottesdienste, in denen Menschen auch leiblich miteinander feiern. Hier in Niedersachsen gibt es ja viel Platz und viel Himmel.
Was wird in diesem Jahr die wichtigste Botschaft in den Himmelfahrtspredigten?
BAHR Gott ist da. Gott entzieht sich dem direkten Zugriff, hat aber die Welt nicht aus der Hand gegeben. Vielleicht sind die Predigten in diesem Jahr gar nicht entscheidend. Wichtiger ist mir das sichtbare Signal: Christinnen und Christen sind nicht abgetaucht. Sie sind nicht verschwunden. Sie bekennen gemeinsam ihren Glauben und teilen ihre Zweifel und zeigen, dass sie einander nicht genug sind. Die Pandemie ist Ausdruck einer Wirklichkeit, die voller Widersprüche, Dunkelheit und Abgründe ist. Doch in alledem ist Gott anwesend. Man muss den guten alten Bollerwagen nicht den Party-Papas überlassen. Christinnen und Christen können gemeinsam unterwegs sein, gerne auch von Posaunen und Trompeten begleitet. Nichts spricht dagegen, leckeres Essen und Picknickdecken dabeizuhaben.
Sollte man dann auch ein Fässchen Bier mitnehmen?
BAHR Und Prosecco oder Rhabarber-Schorle.
Sie sprachen schon vom Abstand im Gottesdienst – wie ist das mit den Distanzen an diesem Himmelfahrtsfest? Sind die Christen schon daran gewöhnt?
BAHR Ich glaube, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt. Aber ich selbst werde mich nicht daran gewöhnen können, dass wir im Gottesdienst Mundschutz tragen, dass die Gesichter verhüllt sind und wir nicht singen dürfen. Und andererseits sehe ich, dass in Asien schon kleine Kinder ganz selbstverständlich mit Masken umgehen. Sie können dort andere Formen der Nähe erzeugen, haben Gesten dafür. Ich habe keine Ahnung, ob das bei uns auch so kommen wird.
Die Kirche lebt nicht nur von den Gottesdiensten. Es gibt zum Beispiel auch Seniorenkreise und Gesprächsgruppen. Wie geht es damit weiter?
BAHR Ich sehe einen doppelten Trend. Menschen, die sich in diesen Gemeinschaften wohlgefühlt haben, fordern nun eine Rückkehr zur alten, vertrauten Form. Andere haben über neue Formen des „Nachdraußengehens“, auch digital, neue Nähe zu ihrem christlichen Glauben gefunden. In Stuhlkreisen würden die sich vermutlich nicht versammeln. Sie suchen andere Formen der Nähe, die spirituell sein kann, aber auch auf der Suche ist nach einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem, was wir gerade erleben.
Also online versus offline?
BAHR Das ist die falsche Alternative. Auf das Wie kommt es an. Mischen sich auch digitale und analoge Formen. Sicher ist es, dass das Digitale die Art des Kommunizierens stark verändert. Menschen haben ein großes Bedürfnis, selbst zu sprechen. Es ist eher die Haltung, die in der Not kreativ gemacht hat: Wie öffnet sich die Kirche gegenüber den Ängsten und Fragen, wie kann der christliche Glaube Orientierung geben? Wie begleiten wir Schmerz, aber auch Frust? Wie damit umgehen, dass Taufen, Konfirmationen, Trauungen abgesagt oder verschoben werden mussten? Statt: Wie sichern wir, was wir immer schon gemacht haben.
Gibt es auch positive Beispiele?
BAHR Ich kenne in meinem Sprengel Gemeinden, wo die Arbeit mit Senioren und die Jugendarbeit plötzlich zusammenläuft, weil sich die jungen Leute bereit erklären, den Senioren zu zeigen, wie man mit einem Tablet den Kontakt halten kann. Da entsteht fast ein neuer Generationenvertrag. Sehr berührend!
Die Corona-Krise wird auch die Kirchensteuern schrumpfen lassen – was wird denn künftig noch gehen? Wird die Kirche noch flächendeckend überall präsent sein?
BAHR Ganz viel hängt daran, was „flächendeckend“heißt. Dass jemand im Pfarrhaus wohnt und ordiniert ist? Vielleicht werden Pastorinnen und Pastoren irgendwann parallel auch andere Brotberufe haben. Ich glaube, dass es sich lohnt, daran zu erinnern, dass das Christentum immer größer war als der Kirchturm, den man sieht. Viele gehen selten in den Gottesdienst, und trotzdem zählen sie sich zur Kirche. Ich finde die Frage, was christliche Existenz heute bedeutet, mindestens so wichtig wie die Organisation der Kirche. Diese Frage sollte auch das entscheidende Kriterium für eine ärmere Kirche sein.