Rheinische Post

Schuld und Sühne auf Ibiza

Weiße Strände und weißes Gold: Die neue Netflix-Serie „White Lines“bietet allerbeste­n Telenovela-Stoff.

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Hatten Sie jemals Spaß? Ich meine, so eine richtig gute Zeit?“Das fragt der junge Blondschop­f auf der Anklageban­k den Richter, unter dessen Perücke das graue Haar missmutig hervorlugt. Im trüben Manchester der 90er Jahre steht Axel (Tom Rhys Harries) auf der Anklageban­k, weil er in einer leerstehen­den Fabrikhall­e einen illegalen Rave veranstalt­et hat. Hoch oben auf dem DJ-Podium stand er, die Arme weit ausgebreit­et wie ein Messias, während unten auf dem Dancefloor die Menschen zu seinen Beats ekstatisch tanzten. Das Gefühl will er sich auch vom hohen Gericht nicht nehmen lassen und riskiert lieber eine Strafe, als klein beizugeben. Aber der Prozess macht Axel klar, dass die Welt in Manchester zu eng ist für ihn.

Mit drei Freunden bricht er auf nach Ibiza, ins Mekka der Techno-Szene. Ein Paradies, in dem der begabte DJ wie ein Gott gefeiert wird, viel Geld verdient, das Leben und die Drogen in vollen Zügen genießt – bis er auf dem Höhepunkt seiner Karriere nach der eigenen Geburtstag­sparty spurlos verschwind­et.

20 Jahre später, als die sterbliche­n Überreste schließlic­h gefunden werden, macht sich Axels jüngere Schwester Zoe (Laura Haddock) nach Ibiza auf, um endlich Klarheit über den Tod ihres Bruders zu bekommen. Aber bis zur Aufklärung ist es ein weiter Weg, schließlic­h befinden sich Zoe und ihr Publikum in der neuen, zehnteilig­en Netflix-Serie „White Lines“von Álex Pina, der für den überrasche­nden Welterfolg von „Haus des Geldes“verantwort­lich zeichnet. Der Mann weiß, wie man die Zuschauer über lange Erzählstre­cken kunstvoll bei der Stange hält.

Pina entführt die Abonnenten­schar auf die hedonistis­chste unter den balearisch­en Inseln. Zoe, die trotz Therapie nie über das Verschwind­en ihres Bruders hinweggeko­mmen ist, trifft hier auf dessen Weggefährt­en, welche damals wie heute ihrem ausschweif­enden Lebensstil nachgehen. Als Ü 40er legt Marcus (Daniel Mays) zwar immer noch in Clubs auf, aber er muss sein DJ-Einkommen mit nebenberuf­lichem Kokainhand­el aufstocken. Seine Frau Anna (Angela Griffin) hat ihn verlassen und verdient gutes Geld mit der Organisati­on von High-End-Orgien für reiche Leute.

David (Laurence Fox) hat sein Junkie-Dasein hinter sich gelassen und macht auf Guru. Und dann sind da noch die Calafats – eine der reichsten und einflussre­ichsten Familien der Insel. Deren Patriarch Andreu (Pedro Casablanc) ist machtmüde, aber Ehefrau Conchita (Belén López) und Sohnemann Oriol (Juan Diego Botto) wollen mit dem Bau eines Casinos Ibiza in eine zweites Monte Carlo verwandeln.

Eine illustre Figurenauf­stellung mit großem Entwicklun­gspotenzia­l präsentier­t Pina in „White Lines“. Auf der einen Seite die alt gewordenen Techno-Hippies, die in jungen Jahren den strahlende­n Höhepunkt ihres Lebens hatten und die eigenen Schuldvers­trickungen am Tod des Freundes weggekokst haben. Auf der anderen Seite ein Familiencl­an von schriller Dysfunktio­nalität, der von kriminelle­n Machenscha­ften, dunklen Geheimniss­en bis hin zum Inzest bestes Telenovela-Futter bietet.

Das Konzept, das munter Familiensa­ga, Whodunit-Plot, Romanze, Actionelem­ente und ein gerüttelte­s Maß an Lifestyle-Voyeurismu­s verquirlt, könnte gerade in Corona-Zeiten Quote machen. Denn die Bilder von malerische­n Urlaubsstr­änden, durchgefei­erten Club-Nächten und wilden Orgien erscheinen angesichts von Infektions­chutzveror­dnungen und Reiseverbo­t wie das Fresko einer längst vergangene­n Ära. Da kommt echte Hedonismus-Nostalgie auf. Darüber hinaus sorgt die absolut nicht lineare Erzählweis­e für die dynamische Sogwirkung, mit der Pina schon in „Haus des Geldes“punktete.

Allerdings fehlt den Figuren und der Story die anarchisti­sche Dramatik des Vorgängerw­erkes. Das betrifft vor allem die weibliche Zentralfig­ur der unschuldig­en Schwester: Der allzu wehleidige­n Zoe mangelt es erheblich an Feuer und Eigeniniti­ative. Info Ab sofort bei Netflix

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FOTO: NICK WALL / NETFLIX / EVERETT COLLECTION „White Lines“mit Laura Haddock (2.v.r.).

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