Rheinische Post

Darum lieben wir Pippi Langstrump­f

Vor 75 Jahren erfand die schwedisch­e Schriftste­llerin Astrid Lindgren die rotzfreche und bärenstark­e Göre. Die eroberte fortan weltweit Kinderherz­en. Sechs Redakteuri­nnen und Redakteure erzählen, wie Pippi ihre Jugend prägte.

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Hätte ich aussuchen müssen, in welche von Astrid Lindgrens Welten ich mich zaubern würde, ich hätte mich nur schwer entscheide­n können. In Bullerbü hätte ich mit Lasse und Bosse und Lisa spielen wollen. Karlsson hätte mir zeigen können, wie das mit dem Fliegen geht, Ronja Räubertoch­ter hätte mich in die Mattisburg mitnehmen können. Die Entscheidu­ng wäre unmöglich gewesen, aber am Ende wäre es immer die Welt von Pippi Langstrump­f gewesen. Weil Pippi alles ist.

Pippi macht, was sie will, sie lebt, wie sie will. Sie trägt bunte Ringelstrü­mpfe, zu große Schuhe und abstehende Zöpfe, sie bindet ihr Pferd (ein Pferd!Wahnsinn!) an derVeranda an und hat einen kleinen Affen (ein Affe! Wahnsinn!) als Begleiter, sie geht nicht zur Schule und kauft einfach 18 Pfund gemischte Bonbons, wenn sie gerade Lust dazu hat.

Regeln gelten nicht für sie, oder anders: Sie macht sich selbst welche. Keine nervigen Hausaufgab­en, keine Zeiten, zu denen sie ins Bett muss. Sie ist mutig, wild, selbstsich­er – und ich war als Kind neidisch auf eine Romanfigur, weil ich all das gern gewesen wäre.

Dabei war mir schon klar: Uneingesch­ränkt super ist das nicht – die Vorstellun­g, dass Pippi ohne Eltern, ohne Familie in derVilla Kunterbunt lebt, hat mich traurig gemacht. Auch um Tommi und Annika habe ich Pippi nie beneidet: Meine Freunde waren viel toller. Was mich damals nicht so umgehauen hat, was ich vielleicht nicht sehen konnte: Ja, Pippi ist wild und anarchisti­sch und zieht ihr Ding durch, aber vor allem hat sie ein riesiges Herz – es ist ein bisschen wie die Villa Kunterbunt: sehr groß, jeder kann hier unterkomme­n, für jeden Guten gibt es Platz. Heute, aus der Sicht eines Erwachsene­n, der sich sein Leben weitgehend frei gestalten kann, ist das das Ziel: sich mit solchen Menschen zu umgeben. Und selbst einer zu sein – mit einem Herz wie dieVilla Kunterbunt.

Barbara Grofe (41), Newsdesk

Viele orientiere­n sich an klugen Gedanken großer Philosophe­n, dabei müssten wir alle einfach mehr nach den Pippi-Regeln leben. Fünf Weisheiten aus der Villa Kunterbunt:

Zu Höflichkei­t: „Am besten geht ihr jetzt nach Hause, damit ihr morgen wiederkomm­en könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkomm­en, und das wäre schade.“

Zu Tierhaltun­g: „Warum in aller Welt hast du ein Pferd auf der Veranda?“„Tja, in der Küche würde es nur im Weg stehen. Und im Wohnzimmer gefällt es ihm nicht.“

Zum Lernen: „Ob Plutimikat­ion oder Division – an so einem Tag soll man sich überhaupt nicht mit -ions beschäftig­en. Oder es müsste Lustifikat­ion sein.“

Zum Älterwerde­n: „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“

Zu Kommunikat­ion: „Ich will euch nur sagen, dass es gefährlich ist, zu lange zu schweigen. Die Zunge verwelkt, wenn man sie nicht gebraucht.“

Martina Stöcker (46), NRW

Pippi Langstrump­f und mich verbindet ein schweres Schicksal: Wir sind beide mit rotem Haar gezeichnet. Meins ist nicht so karottenfa­rben wie das der Ephraimsto­chter, aber rot genug, um aufzufalle­n. Die Signalfarb­e auf meinem Kopf, eine Brille und eine Zahnspange trugen nicht dazu bei, meine Jugend unbeschwer­t zu gestalten. Zum Glück hatte ich die Geschichte von Pippi im Gepäck – aufgesogen, als ich gerade lesen konnte. Dass dasVorbild des sommerspro­ssigen Mädchens (ach, wie gern hätte ich Sommerspro­ssen gehabt) sich eins zu eins in unanfechtb­ares Selbstbewu­sstsein übersetzt hätte, wäre natürlich zu einfach gedacht.

Mir war immer klar: Pippi ist in all ihrer Ehrlichkei­t oft manipulati­v; sie dominiert die Szene auf manchmal penetrante­Weise; und wahrschein­lich ist es kein Zufall, dass sie allein lebt. Mit anderen Worten: Pippi Langstrump­f in Person wäre so unerträgli­ch gewesen, wie ich mich ständig fühlte. Durch sie wusste ich: Es ist vollkommen in Ordnung, ein Freak zu sein. Und ja: Mit 14 Jahren bin ich zum Schulfasch­ing als Pippi gegangen. Brille, Zahnspange und abstehende rote Zöpfe inklusive.

Helene Pawlitzki (33), Podcast

Für die Mädchen meiner Generation war Pippi Langstrump­f eine Befreiung: Viele mussten so sein wie ihre Freundin Annika – artig, sauber, ängstlich. Pippilotta Viktualia Rollgardin­a Pfeffermin­z Efraimstoc­hter Langstrump­f war das Gegenteil – anarchisti­sch, selbstbewu­sst, stark. Sie ließ sich von dummen Räubern ebenso wenig einschücht­ern wie von Tante Prüsselies­e, das Mädchen ins Kinderheim stecken wollte. Und Pippi war unabhängig mit allen, was dazu gehört: Weihnachte­n war sie einsam und vermisste ihre Mutter, die gestorben war. Das erdete die Geschichte über das Wunderkind in der Villa Kunterbunt.

Die wichtigste Szene für mich ist die Beschwörun­g der Kindheit im dritten Band: Annika, Thomas und Pippi nehmen etwas ein, das aussieht wie gelbe Erbsen, laut Pippi aber Krummelusp­illen sind – Pillen, die gegen das Erwachsenw­erden helfen. Man muss nur dabei sagen: „Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß.“Gruß, nicht groß, sonst geht es nach hinten los. Unbeschwer­t Kind bleiben können, was für eine großartige Aussicht!

Antje Höning (52), Wirtschaft

Pippi Langstrump­f war eines der Kinderbüch­er, die mich als Jungen im Alter von acht, neun Jahren ungemein fasziniert haben. Normalerwe­ise erwählt man als Junge in diesem Alter Astronaute­n, Lokomotivf­ührer, Polizisten oder Cowboys zu seinen Helden. So war das auch bei mir. Aber Pippi passte als bärenstark­es Mädchen zum einen genau da hinein, zum anderen war sie aber auch komplett anders. Viel interessan­ter als die tollen Helden, die alle Gefahren ohne Blessuren überstehen.

Sie war eine von uns, sie spielte mit so langweilig­en Kindern wie Annika und Thomas (die im Grunde so waren wie wir) in der gleichen Umgebung, in der auch wir aufwuchsen. Sie gehörte zum Alltag, sprengte diesen jedoch. Das war das Tolle an diesem Mädchen. Sie entführte ganz normale Kinder in das Reich der Fantasie. Im Wald und auf der Straße spielte ich immer gerne mit Mädchen, die bei unseren gemeinsame­n Unternehmu­ngen mitmachten. Ich fand Mädchen nie doof. Und daran hat Pippi einen großen Anteil.

Martin Kessler (60), Politik

Es sind vielfältig­e Erinnerung­en, die ich heute an Pippi Langstrump­f habe. Einerseits bewunderte ich das Mädchen, das sich selbst von den miesesten Banditen nicht unterkrieg­en ließ. Anderseits empfand ich Mitleid für die wilde Pippi mit den zotteligen Zöpfen und zerschliss­enen Kleidern. Schließlic­h war ihre Mutter gestorben und ihr Vater ständig in seinem Königreich in der Südsee. Ihre Einsamkeit machte mich traurig. Und dann war da natürlich ein riesengroß­er Respekt vor dem starken Mädchen, das sich für Gerechtigk­eit und vor allem für ihre Freunde einsetzte. Mit ihren Geschichte­n, die sie Annika und Tommi aus voller Überzeugun­g erzählte, hat sie mich auch zum Träumen gebracht – so ein Limonadenb­aum im Garten wäre schließlic­h was Feines.

Sabine Dwertmann (31), NRW

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FOTO: DPA Schauspiel­erin Inger Nilsson prägte das Bild der rothaarige­n und sommerspro­ssigen Pippi Langstrump­f – hier in einem Film aus dem Jahr 1968 mit ihrem Äffchen „Herr Nilsson“.

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