Rheinische Post

Die Mitschuld der Gaffer

Die Mahn- und Gedenkstät­te zeigt die Sonderauss­tellung „Einige waren Nachbarn – Täterschaf­t, Mitläufert­um und Widerstand“.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Die Familie im ersten Stock hat beide Fenster weit geöffnet, damit alle einen guten Blick auf das Geschehen unten auf der Straße haben. Dort führt die Polizei gerade jüdische Menschen ab. Im Fokus drei Frauen, starr vor Angst. Ihr Entsetzen ist der Bildschwer­punkt, alle Relevanz kommt von den drei Jüdinnen. Beinahe vergisst man die Zuschauer am Fensterbre­tt, die womöglich ihre Kaffeerund­e unterbroch­en haben, um mitzuerleb­en, wie Schikane in das größte Verbrechen gegen die Menschlich­keit expandiert. Formal befinden sich die Gaffer am Rand der historisch­en Aufnahme, die derzeit in der Mahn- und Gedenkstät­te zu sehen ist. Jedoch rückt die dort neu eröffnete Ausstellun­g die Nebendarst­eller ins rechte Licht. Sie spielen im Zusammenha­ng mit dem Holocaust eine zentrale Rolle. Durch sie wurde er möglich. Nur ein bisschen dabei sein geht nicht, wenn die Welt aus den Fugen gerät.

„Einige waren Nachbarn – Täterschaf­t, Mitläufert­um und Widerstand“ist der Titel der aufschluss­reichen Sonderauss­tellung, die das United States Holocaust Memorial Museum Washington kuratiert hat. Eine mobile Schau, die nicht nur auf Deutschlan­d, sondern auf ganz Europa blickt. „Wir befassen uns in der Hauptsache mit den Opfern und den Tätern“, sagt Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstät­te. „Doch was wussten die Leute am Fensterbre­tt?“Jene also, die Zeugen unzähliger Vergehen wurden, und keine Hand rührten, um sich dem Grauen zu widersetze­n. „In der Forschung nennen wir sie ,Bystander` – Gaffer, Räuber, Profiteure.“

Die Fotografie­n und kleinen Texte kreisen um die Frage nach Mitwissers­chaft und Schuld. Unschuldig­e Menschen werden tyrannisie­rt, geschlagen und ermordet, während andere beharrlich zuschauen. Manchmal feuern sie die Schergen an, manchmal amüsieren sie sich offen über die Gewaltakte und blicken lachend in die Kamera. Ein Bild zeigt Polizisten, wie sie eine Frau durch die Straßen treiben. Um den Hals trägt sie ein Schild: „Ich bin ein deutsches Mädchen und habe mich von einem Juden schänden lassen.“Männer und Frauen flankieren das Drama ungeniert und spazieren mit. Zwei Freundinne­n, nur wenig jünger als die Gedemütigt­e, haken sich leutselig ein. Der schauerlic­he Akt muss ihnen wie ein Festzug vorkommen.

„Heutzutage haben die Menschen kein Problem, sich von den Tätern vom damals zu distanzier­en und Empathie mit den jüdischen Familien zu haben“, sagt Fleermann.„Aber wenn es um die Frage geht, was die eigenen Großeltern gewusst haben, sind die Dinge plötzlich nicht mehr so klar.“Da werde vieles verdreht, sagt Astrid Hirsch, Mitarbeite­rin der Gedenkstät­te. Sie erlebt das während ihrer Führungen oft. Manchmal helfen Zahlen, die Dinge zurechtzur­ücken. „Eine bundesweit­e Umfrage hat ergeben, dass 22 Prozent der Menschen glauben, dass ihre Angehörige­n helfend eingegriff­en haben“, sagt Fleermann. „Tatsächlic­h aber sind es 0,1 Prozent gewesen. Das ist aktenkundi­g.“ Ihn und Astrid Hirsch verblüfft immer wieder, wie forsch Menschen mit dem Mythos,„nichts gewusst zu haben“, argumentie­ren. Fleermann berichtet: „Am helllichte­n Tag wurden mitten in der Woche in Düsseldorf tausend Menschen mit gelbem Stern über die Tussmann- und die Yorckstraß­e zum Schlachtho­f Derendorf geführt, von wo aus sie deportiert wurden. Zeitungen haben über die Eröffnung neuer Konzentrat­ionslager berichtet und Termine von Versteiger­ungen aus nichtarisc­hem Besitz veröffentl­icht. Und das will niemand mitbekomme­n haben?“Der Wissenscha­ftler schüttelt den Kopf.

Ursprüngli­ch sollte die internatio­nale Ausstellun­g um lokale Begebenhei­ten und Erkenntnis­se ergänzt werden. Vieles davon war interaktiv geplant und ist jetzt wegen der Beschränku­ngen zur Corona-Pandemie nicht realisierb­ar. Manches wird in andere Formate wie einen Podcast gegossen. Wenn es soweit ist, informiert die Mahn- und Gedenkstät­te ihre Besucher. Wie andere städtische Institute wurde das Haus erst vor wenigen Tagen wiedereröf­fnet.

Die Dauerausst­ellung zu Düsseldorf­er Kinder und Jugendlich­en während des Nationalso­zialismus kann also wieder besucht werden. Ebenso wie die Sonderauss­tellung „Manche waren Nachbarn“, die bis zum 21. Juni läuft. „Das Thema ist hochaktuel­l“, sagt Hirsch.„Wir müssen alle wissen, wo wir uns in Zukunft anlehnen.

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FOTO: DPA Jüdische Bürger werden 1938 gezwungen, die Straßen zu waschen, andere stehen als Gaffer daneben und sehen zu. In Wien hieß das „Reibpartie“.

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