„Geisterspiele sind für Orchester keine Option“
Hilfen für die Kultur sind Investitionen in die Zukunft, so die Kulturstaatsministerin. Einem Deutschen Fotoinstitut in Düsseldorf räumt sie nur geringe Chancen ein.
Welche Kulturangebote vermissen Sie in Corona-Zeiten am meisten?
GRÜTTERS Vor allem Oper und Konzert. Die Musik geht unter die Haut, die Schwingungen sind intensiv. Ich hänge sehr an dieser sehr emotionalen Qualität. Deshalb blutet mir das Herz, dass sie zu den ersten gehörten, die dichtmachen mussten – und dass es nun so schwer ist, sie wieder ans Laufen zu bekommen.
In der Fußball-Bundesliga spielen die Akteure noch enger zusammen als im Orchestergraben.
GRÜTTERS Das stimmt so nicht. Der Graben ist ein geschlossener Raum. Wenn eine Strauss-Oper gespielt wird, sitzen dort sehr viele Menschen eng beieinander. Das kann man mit dem freien Fußballfeld an der frischen Luft nicht vergleichen. Erste Empfehlungen der zuständigen Ämter und Unfallkassen für die Orchester waren dann auch sehr praxisfern und hätten einen sinnvollen Wiederbeginn unmöglich gemacht. Wir haben uns deshalb wissenschaftlich beraten lassen. Die Charité und sieben Berliner Orchester haben dokumentiert, wie sich Aerosole durch die verschiedenen Instrumente unterschiedlich verbreiten. Auf dieser Basis haben wir auch mit den Ländern gemeinsam fundierte Öffnungsszenarien erarbeitet.
Ein Orchester in Quarantäne zu schicken, wie es Fußballteams machen, stand nie zur Debatte?
GRÜTTERS Wenn es nicht um sehr viel Geld ginge, würden sich auch die Fußballer nicht in eine solche Quarantäne begeben. Wer ein Orchester vor einem Konzert in Quarantäne schickt, damit die Musiker unbefangen auftreten können, müsste die Prozedur beim nächsten Konzert wiederholen – und all das auch bezahlen. Das ist praxisfern und gegenwärtig nicht relevant. Wir Politiker formulieren die Rahmenbedingungen, die einzelnen Häuser müssen dann selbst überlegen, wie sie damit umgehen und die entsprechenden Absprachen mit den Behörden vor Ort treffen.
Gibt es Unterschiede zwischen Fußball und Orchester?
GRÜTTERS Grundsätzlich gilt für mich: Was in einem Bereich geht, sollte auch in einem anderen Bereich möglich sein. Das Tempo, mit dem die Bundesliga wiederbegonnen hat, lässt einen schon über Wertigkeiten in der Gesellschaft nachdenken. Geisterspiele sind für Orchester jedenfalls keine Option, sie brauchen das Publikum – zumal den Orchestern die Übertragungswege des Fußballs eben auch nicht zur Verfügung stehen.
Was gilt für Kinos?
GRÜTTERS Ich habe von Anfang an dafür plädiert, die Buchhandlungen von den Schließungen auszunehmen. Denn Bücher sind genauso Lebensmittel wie Obst, Käse und Nudeln. Das haben Sachsen-Anhalt und Berlin befolgt, und sie sind gut damit gefahren. Danach haben wir die Museen wieder an den Start gebracht. Als nächstes sollten die Kinos drankommen, denn da steht zumindest kein leibhaftiges Ensemble auf der Bühne. Da Filmstarts für dieVerleiher aber nur Sinn machen, wenn sie bundesweit am selben Tag laufen, müssen sich die Kinoverbände auch auf einen gemeinsamen Neustart-Termin verständigen.
Aber gibt es neue Filme? Die Produktion wurde ja unterbrochen. Und rechnet es sich überhaupt, wenn wegen der Abstandsregeln 30 Besucher im Saal sitzen?
GRÜTTERS Kinos sind in der Tat im Vergleich zu Theatern ein Sonderfall. Bislang konnten sich die Verbände ja nicht einmal untereinander darauf verständigen, ob es im Juni oder im Juli wieder losgehen soll. Und dann gibt es natürlich die Frage der Wirtschaftlichkeit: Rechnet es sich für die Kinos, wenn die Mitarbeiter aus der Kurzarbeit zurück sind, die Betreiber aber wegen den Abstandsregeln im Saal nur ein Drittel der gewöhnlich erzielbaren Einnahmen haben? Zudem haben wir noch das Problem Mundschutz versus Popcorn. Schließlich erwirtschaften die Kinos einen erheblichen Teil des Umsatzes mit demVerkauf von Lebensmitteln. Für mich gilt: Die Politik definiert den Rahmen der Möglichkeiten, und die Branche regelt dann, wie und wann es umgesetzt wird.
Was können Sie aus der Pandemie für den Kulturbetrieb in weiteren Pandemien lernen?
GRÜTTERS Ich denke, viele Menschen haben in den vergangenen Wochen gelernt, dass Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen und Lesungen nichts Selbstverständliches, sondern dass sie etwas sehr Wertvolles sind. Dass wir Menschen Kultur brauchen und dass sie uns fehlt, wenn sie nicht mehr stattfinden kann. Für mich ist Kultur auch ein Ausdruck von Humanität. Ich will mir nicht die Unbefangenheit und Lebensqualität nehmen, indem ich mich in einem Ausnahmezustand einrichte. Kultur ist ein Modus unseres Zusammenlebens, und dahin wollen wir zurück.
Was könnte in der Kultur die Einschränkungen in der Zeit der Pandemie nicht überleben? Und wäre damit auch eine Art Inventur der Kulturlandschaft verbunden?
GRÜTTERS Wir arbeiten gerade zusammen mit dem Finanzministerium an einem Hilfs- und Rettungspaket für die Künste. Da geht es mir exakt um die kulturelle Infrastruktur. Mit den Soforthilfen und dem Sozialschutzpaket haben wir Künstlerinnen und Künstler persönlich sowie Unternehmen adressiert. Diesmal geht es um die Infrastruktur mit einem Blick auf die Kulturlandschaft in Deutschland als Ganzes, also über kommunale und Ländergrenzen hinweg. Ziel ist es, das große, dichte Geflecht insgesamt zu erhalten und zu beschützen. Denn wir müssen aufpassen, dass am Ende zwar nicht die Künstlerinnen und Künstler überlebt haben, aber ihre Arbeits- und Wirkungsstätten verschwunden sind. Also: Lasst uns erhalten, was wir erhalten können!
Sind öffentliche Gelder für die Kultur eine Subventionierung oder eine Finanzierung?
GRÜTTERS Ich sehe das vor allem als eine Investition in die Zukunft, mit der auch ein Bildungsauftrag verbunden ist. Kultur dient nicht nur der Unterhaltung, sie darf auch eine Zumutung sein und hat dadurch den Charakter eines kritischen Korrektivs unserer Gesellschaft. Deshalb ist sie für eine lebendige Demokratie unverzichtbar. In keinem autoritären System finden sie keine selbstbewusste Kultur, die öffentlich sichtbar ist. Die Autonomie der Kunst ist ein Wesenszug unserer bundesdeutschen Gesellschaft geworden. Dabei können wir stolz sein, dass das immense kulturelle Angebot in Deutschland auf großen Zuspruch in der Bevölkerung stößt. Die deutschen Museen haben das Zehnfache an Besuchern im Vergleich zu allen Fußball-Bundesligaspielen. Weil es dafür einen Bedarf gibt!
Zum Schluss noch eine Frage, die konkret das Rheinland betrifft. Es geht um die Pläne und vor allem um den Standort eines neuen Fotoinstituts, für den Düsseldorf ja auch im Gespräch ist. Wie ist der Stand der Diskussion?
GRÜTTERS Die Fotografie ist ja eine noch relativ junge Kunst, dennoch stellt sich schon jetzt die Frage nach dem Umgang mit den Nachlässen großer Fotografinnen und Fotografen. Und weil das Trägermaterial bei der Fotografie ja vergänglich ist, müssen auch konservatorische und restauratorische Probleme gelöst werden. Ich habe mich schon früh für dieses Thema interessiert und nach einer großen Veranstaltung im Juni vergangenen Jahres eine Expertenkommission zur Klärung der Grundlagen für ein Fotoinstitut eingesetzt. Dann hat die Stadt Düsseldorf ihr Interesse daran artikuliert und hat dafür geworben, dass am dortigen Standort etwas passiert. Das Land NRW hat eine Ko-Finanzierung in Aussicht gestellt. Das geschah alles, bevor die von mir einberufene Expertenkommission nach monatelanger Arbeit ihre Ergebnisse vorstellte. Das ist nun im März geschehen – mit eine Empfehlung für die Stadt Essen.
Was war dann die Aufgabe der Expertenkommission?
GRÜTTERS Die Aufgabe der Expertenkommission war es, ein solides Konzept für ein Fotoinstitut zu erarbeiten. Dazu hat sie von Juni 2019 bis März 2020 über 70 Gespräche mit Fotografinnen und Fotografen und wichtigen Vertretern der Szene geführt. Zudem hat sie sich national und international Beispiele ähnlicher Fotoinstitute angeschaut. Im Vergleich der Standorte fiel in dem Konzept die Wahl auf Essen – mit überzeugenden Argumenten, weil dort einfach schon viele Voraussetzungen zur Geschichte der Fotografie gegeben sind.
Wie kommt man jetzt aus diesem Dilemma heraus?
GRÜTTERS Das ist in der Tat nicht einfach, weil Düsseldorf ja auch für sich wirbt. Grundlage meines Handelns sind natürlich erstmal die Empfehlungen der Expertenkommission. Deshalb lassen wir jetzt eine Machbarkeitsstudie für Essen erstellen, die ergänzend auch Düsseldorf betrachten wird. So können wir uns auch in Bezug auf die reine Standortfrage ein Urteil bilden. Ich verstehe natürlich die lokalen Interessen in Düsseldorf und in Essen, aber entscheidend muss am Ende das Gutachten sein – und darin wird Essen empfohlen.