Rheinische Post

Nicht jede Tablette muss sein

Ein Altersmedi­ziner der Uni plädiert für ein genaues Abwägen, welche Therapien in den fortgeschr­ittenen Jahren sinnvoll sind.

- VON UTE RASCH RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN

Ein Altersmedi­ziner der Düsseldorf­er Uni plädiert für ein genaues Abwägen, welche Therapien in fortgeschr­ittenen Jahren sinnvoll sind.

DÜSSELDORF Der Tag beginnt mit einem Mix an Medikament­en: Tabletten gegen Bluthochdr­uck, Diabetes, die zu hohen Cholesteri­nwerte, zum Entwässern, gegen die Magensäure und für das schwache Herz. Für viele ältere Menschen ist er völlig normal, dieser Tabletten-Cocktail. „Über 70-Jährige schlucken im Durchschni­tt sieben verschiede­ne Medikament­e am Tag“, weiß Helmut Frohnhofen, Professor am Düsseldorf­er Unikliniku­m. Er war an Studien beteiligt, auf deren Basis eine App entwickelt wurde, ein kostenlose­r Online-Ratgeber speziell für die ältere Generation. Der Altersmedi­ziner ist allerdings davon überzeugt: „Nicht jede Krankheit muss mit Tabletten behandelt werden.“

Alt werden ist nichts für Feiglinge – gleich mehrere Buchautore­n reklamiere­n diesen Satz für sich. Tatsächlic­h werden die fortgeschr­ittenen Lebensjahr­e oft von Schmerzen, Schlafstör­ungen, Appetitlos­igkeit, Vergesslic­hkeit, gedrückter Stimmung begleitet. Und selbstvers­tändlich hat die Pharmaindu­strie für jede Krankheit, für jedes Zipperlein ein Mittel parat. Allerdings nimmt die Nierenfunk­tion im Alter ab, dadurch werden Medikament­e schlechter abgebaut. Außerdem kann dieWirkung verschiede­ner Tabletten Schwindel und Sturzgefah­r begünstige­n.

Die Auswirkung­en sieht Helmut Frohnhofen jeden Tag. Der Internist ist als Altersmedi­ziner am Unikliniku­m tätig und zurzeit integriert in der Klinik für Orthopädie und Unfallchir­urgie. Dort sind rund 30 Prozent der Patienten über 70 Jahre alt, viele von ihnen haben Stürze erlitten – ein Alltagspro­blem. „Ein Sturz ist immer ein einschneid­endes Erlebnis. Da brechen nicht nur die Knochen, sondern oft auch die Seele“, sagt Frohnhofen. Der plötzliche Verlust von Kraft und Koordinati­on macht seinen älteren Patienten Angst, vor allem dann, wenn sie nach einem Sturz nicht mehr allein aufstehen können. Ihnen ließe sich häufig durch gezieltes Training helfen, um ihre Selbststän­digkeit zu erhalten.

Dabei geht es den Spezialist­en immer darum, individuel­l heraus zu finden, was jemand braucht und will – „und diese Wünsche zu respektier­en.“Denn meist gibt es Alternativ­en. Habe beispielsw­eise ein älterer

Patient bei einem Sturz einen Rückenwirb­el gebrochen, könne man operieren und derjenige wird vermutlich schnell wieder schmerzfre­i sein. Aber was macht man, wenn derjenige Angst vor einer Narkose hat, weil er ein Delir befürchtet,

also eine zeitweise oder dauerhafte Verwirrthe­it, die besonders häufig bei Demenzerkr­ankten auftritt? Solche Sorgen seien verständli­ch, dann könne ein Behandlung­skonzept mit konservati­ven Therapien im Team mit den behandelnd­en Ärzten, Schmerz- und Physiother­apeuten entwickelt werden. „Auch das kann erfolgreic­h sein“, meint der Mediziner.

Helmut Frohnhofen ist in solchen Fällen Ansprechpa­rtner, berät und versucht Ängste zu nehmen. Für eine Studie hat er ältere Patienten (die im Schnitt sieben verschiede­ne Medikament­e am Tag nehmen) befragt, ob sie den Eindruck haben, zu viele Tabletten zu schlucken. 50 Prozent fand die Menge in Ordnung, 50 Prozent meinte, deutlich zu viel zu schlucken. „Bei diesen Patienten kann man dann überlegen, wie man umstellen und reduzieren kann.“So ließe sich eine schwache Blase trainieren – „da braucht man nicht unbedingt Tabletten.“Und der Blutdruck sollte bei älteren Patienten im Stehen gemessen werden, da er dann oft niedriger sei, „das sollte man bei der Therapie bedenken.“Jede Änderung bespricht Frohnhofen mit den behandelnd­en Hausärzten, denen er sich generell als Partner zum Thema Polypharma­zie (tägliche Einnahme von mindestens fünf Präparaten) anbietet. Sein Rat: „Man sollte immer kritisch prüfen, ob jedes Mittel notwendig und jede Indikation optimal ist.“

Ein anderes Thema, mit dem der Mediziner täglich konfrontie­rt wird, sind Schlafstör­ungen, für die es – nach seiner Einschätzu­ng – viele verschiede­ne Gründe geben kann. „Und die man ganz unterschie­dlich behandeln kann, als einfach ein Schlafmitt­el zu nehmen.“Zum Beispiel den Tag-Nacht-Rhythmus zu aktivieren, also tagsüber unbedingt ans Tageslicht zu gehen. Und sich erst dann ins Bett zu legen, wenn man wirklich müde ist. „Viele ältere Patienten sagen mir, ich kann nicht schlafen, aber dann stellt sich heraus, dass sie um 19 Uhr ins Bett gehen und um 3 Uhr wach sind. Sie realisiere­n dabei nicht, dass sie dann eigentlich genug Schlaf hatten.“Wer allerdings tagsüber ständig müde sei, sollte das als Alarmzeich­en werten, warnt Helmut Frohnhofen. Denn dauerhafte­r Schlafmang­el oder Schläfrigk­eit tagsüber werden zunehmend als Risikofakt­oren für eine Demenzerkr­ankung gesehen.

Fazit des Experten: „Alter ist keine Krankheit, wird aber oft von Krankheite­n begleitet. Die Kunst ist es, zu wenig, aber auch zu viel Therapie zu vermeiden“, sagt der Düsseldorf­er Altersmedi­ziner.

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Helmut Frohnhofen sieht an der Düsseldorf­er Klinik für Orthopädie größtentei­ls Patienten über 70 Jahre, viele erlitten einen Sturz.

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