Nicht jede Tablette muss sein
Ein Altersmediziner der Uni plädiert für ein genaues Abwägen, welche Therapien in den fortgeschrittenen Jahren sinnvoll sind.
Ein Altersmediziner der Düsseldorfer Uni plädiert für ein genaues Abwägen, welche Therapien in fortgeschrittenen Jahren sinnvoll sind.
DÜSSELDORF Der Tag beginnt mit einem Mix an Medikamenten: Tabletten gegen Bluthochdruck, Diabetes, die zu hohen Cholesterinwerte, zum Entwässern, gegen die Magensäure und für das schwache Herz. Für viele ältere Menschen ist er völlig normal, dieser Tabletten-Cocktail. „Über 70-Jährige schlucken im Durchschnitt sieben verschiedene Medikamente am Tag“, weiß Helmut Frohnhofen, Professor am Düsseldorfer Uniklinikum. Er war an Studien beteiligt, auf deren Basis eine App entwickelt wurde, ein kostenloser Online-Ratgeber speziell für die ältere Generation. Der Altersmediziner ist allerdings davon überzeugt: „Nicht jede Krankheit muss mit Tabletten behandelt werden.“
Alt werden ist nichts für Feiglinge – gleich mehrere Buchautoren reklamieren diesen Satz für sich. Tatsächlich werden die fortgeschrittenen Lebensjahre oft von Schmerzen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit, gedrückter Stimmung begleitet. Und selbstverständlich hat die Pharmaindustrie für jede Krankheit, für jedes Zipperlein ein Mittel parat. Allerdings nimmt die Nierenfunktion im Alter ab, dadurch werden Medikamente schlechter abgebaut. Außerdem kann dieWirkung verschiedener Tabletten Schwindel und Sturzgefahr begünstigen.
Die Auswirkungen sieht Helmut Frohnhofen jeden Tag. Der Internist ist als Altersmediziner am Uniklinikum tätig und zurzeit integriert in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie. Dort sind rund 30 Prozent der Patienten über 70 Jahre alt, viele von ihnen haben Stürze erlitten – ein Alltagsproblem. „Ein Sturz ist immer ein einschneidendes Erlebnis. Da brechen nicht nur die Knochen, sondern oft auch die Seele“, sagt Frohnhofen. Der plötzliche Verlust von Kraft und Koordination macht seinen älteren Patienten Angst, vor allem dann, wenn sie nach einem Sturz nicht mehr allein aufstehen können. Ihnen ließe sich häufig durch gezieltes Training helfen, um ihre Selbstständigkeit zu erhalten.
Dabei geht es den Spezialisten immer darum, individuell heraus zu finden, was jemand braucht und will – „und diese Wünsche zu respektieren.“Denn meist gibt es Alternativen. Habe beispielsweise ein älterer
Patient bei einem Sturz einen Rückenwirbel gebrochen, könne man operieren und derjenige wird vermutlich schnell wieder schmerzfrei sein. Aber was macht man, wenn derjenige Angst vor einer Narkose hat, weil er ein Delir befürchtet,
also eine zeitweise oder dauerhafte Verwirrtheit, die besonders häufig bei Demenzerkrankten auftritt? Solche Sorgen seien verständlich, dann könne ein Behandlungskonzept mit konservativen Therapien im Team mit den behandelnden Ärzten, Schmerz- und Physiotherapeuten entwickelt werden. „Auch das kann erfolgreich sein“, meint der Mediziner.
Helmut Frohnhofen ist in solchen Fällen Ansprechpartner, berät und versucht Ängste zu nehmen. Für eine Studie hat er ältere Patienten (die im Schnitt sieben verschiedene Medikamente am Tag nehmen) befragt, ob sie den Eindruck haben, zu viele Tabletten zu schlucken. 50 Prozent fand die Menge in Ordnung, 50 Prozent meinte, deutlich zu viel zu schlucken. „Bei diesen Patienten kann man dann überlegen, wie man umstellen und reduzieren kann.“So ließe sich eine schwache Blase trainieren – „da braucht man nicht unbedingt Tabletten.“Und der Blutdruck sollte bei älteren Patienten im Stehen gemessen werden, da er dann oft niedriger sei, „das sollte man bei der Therapie bedenken.“Jede Änderung bespricht Frohnhofen mit den behandelnden Hausärzten, denen er sich generell als Partner zum Thema Polypharmazie (tägliche Einnahme von mindestens fünf Präparaten) anbietet. Sein Rat: „Man sollte immer kritisch prüfen, ob jedes Mittel notwendig und jede Indikation optimal ist.“
Ein anderes Thema, mit dem der Mediziner täglich konfrontiert wird, sind Schlafstörungen, für die es – nach seiner Einschätzung – viele verschiedene Gründe geben kann. „Und die man ganz unterschiedlich behandeln kann, als einfach ein Schlafmittel zu nehmen.“Zum Beispiel den Tag-Nacht-Rhythmus zu aktivieren, also tagsüber unbedingt ans Tageslicht zu gehen. Und sich erst dann ins Bett zu legen, wenn man wirklich müde ist. „Viele ältere Patienten sagen mir, ich kann nicht schlafen, aber dann stellt sich heraus, dass sie um 19 Uhr ins Bett gehen und um 3 Uhr wach sind. Sie realisieren dabei nicht, dass sie dann eigentlich genug Schlaf hatten.“Wer allerdings tagsüber ständig müde sei, sollte das als Alarmzeichen werten, warnt Helmut Frohnhofen. Denn dauerhafter Schlafmangel oder Schläfrigkeit tagsüber werden zunehmend als Risikofaktoren für eine Demenzerkrankung gesehen.
Fazit des Experten: „Alter ist keine Krankheit, wird aber oft von Krankheiten begleitet. Die Kunst ist es, zu wenig, aber auch zu viel Therapie zu vermeiden“, sagt der Düsseldorfer Altersmediziner.