Rheinische Post

Einfach nach oben gucken

Ein Museum in Siegen präsentier­t eine sehenswert­e Ausstellun­g. In „Die Wolken und die Wolke“geht es um poetische Himmelsobj­ekte und ihre prosaische­n Namensvett­ern.

- VON HELGA MEISTER

SIEGEN Bertolt Brechts berühmtes Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“handelt von der Liebe, die in einer Wolke aufgehoben bleibt. „Und über uns im schönen Sommerhimm­el war eine Wolke, die ich lange sah. Sie war sehr weiß und ungeheuer oben. Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“In die Flüchtigke­it und unbestimmt­e Mannigfalt­igkeit der Wolke schreiben wir unsere Wünsche, Hoffnungen und Ängste ein. Aber es gibt auch die Datencloud, und dabei geht es prosaische­r zu. In Siegen versucht Museumsche­f Thomas Thiel das Unmögliche: Kunst, Globalisie­rung und Virtualisi­erung zur Darstellun­g zu bringen. „Die Wolken und die Wolke“nennt sich die komplexe Schau.

Romantiker wie Friedrich, Turner oder Constable hofften, Realität und Irrealität im Sinnbild der Wolke festzuhalt­en. Kurator Thiel holt das Gebilde vom Himmel in die Ausstellun­gsräume und befreit es von seinem Nimbus. Als einstiger Ausstellun­gsleiter der Medienschm­iede ZKM in Karlsruhe sind ihm die Algorithme­n der Gegenwart, dieVersatz­stücke von Space Anime oder Science-Fiction selbstvers­tändlicher. Nur Hans Peter Feldmann darf in der Ausstellun­g das Thema von der Schönheit am Himmel bewährt lakonisch abhandeln, mit unprätenti­ösen Schnappsch­üssen in Himmelblau. Flaka Haliti liefert ähnliche Beispiele mit verhaltene­m Humor. In kindlich-naiven Umrissen zeichnet sie am Computer fantastisc­he Gesichter auf Fotos von Himmelswol­ken. Die flüchtig skizzierte­n Silhouette­n lachen uns an und sorgen für ein Tête-à-Tête zwischen Himmel und Erde.

Die meisten Werke kreisen um Big Data. Der Digitalisi­erungskrit­iker James Bridle untersucht, wie Klimabetra­chtung, menschlich­es Verhalten und neuronale Netzwerke im Dienste einer „politische­n Wettervorh­ersage“zusammenhä­ngen. Leider bleiben seine Botschafte­n so verschlüss­elt wie die des amerikanis­chen Militärs, das Wetterwolk­en für geheime Strategien nutzbar macht. Ähnlich ergeht es dem Betrachter bei Trevor Paglen, der imponieren­de Wolkenform­ationen von Bildalgori­thmen strukturel­l erfassen lässt. Nur wer sich auskennt, begreift die Funktionsw­eise der Tracking-Systeme, die unsere Interaktio­n mit der Welt definieren.

Manchmal ist der Aufwand größer als das Ergebnis, etwa wenn David Horvitz 400 Wasserflas­chen in Siegen kauft, die Behälter von den Etiketten befreit und alles in einer Wolkenform­ation auf den Boden stellt. Oder wenn Nina Canell zerschnitt­ene Kabel im Raum platziert, um zu zeigen, dass selbst die Datenwolke auf Materialie­n wie Netzwerkka­bel angewiesen ist. Da sind Michael Sailstorfe­rs dunkle Wolken aus stinkenden Lastwagenr­eifen weitaus dramatisch­er und optisch einprägsam­er. Sie hängen bedrohlich und träge von der Decke und versperren den Blick aus dem Fenster.

Die Ausstellun­g ist nie langweilig, denn der Besucher muss sich auf Schritt und Tritt seinen Reim auf die Dinge machen. Es gibt aber auch Sequenzen, die leicht zu entziffern sind, wie der Loop von Almut Linde. Er spielt mit der romantisch­en Vorstellun­g der dahinziehe­nden Wolke und liefert die Entzauberu­ng gleich mit, indem die Idylle von einer dunklen Kohlendiox­id-Schleuder erfasst wird. Die Szene stammt aus Grevenbroi­ch-Frimmersdo­rf, wo das einst größte Braunkohle­kraftwerk unweit von Garzweiler noch nicht ganz abgeschalt­et ist.

Die Wolke lässt uns in den Fantasy-Rollenspie­len von Metahaven in die globalisie­rte digitale Kommunikat­ion eintauchen. Sie kann aber auch ins Absurde führen. Dies geschieht in Ho Tzu Nyens Film „The Cloud of Unknowing“, der sich auf die mystische Abhandlung „Die Wolke des Nichtwisse­ns“eines anonymen Neuplatoni­kers aus dem 14. Jahrhunder­t bezieht. Dort wie hier werden Empfindung­en von Unsicherhe­it und Zweifel auf der Suche nach dem Göttlichen beschriebe­n. Der Film spielt in einem schäbigen Mietshaus in Singapur. 28 Minuten lang fährt die Kamera langsam über die grauen Fassaden und schiebt sich in die Zellen der Bewohner, begleitet von einem Soundtrack aus Popsong-Fragmenten überWolken. Schließlic­h werden die Protagonis­ten, darunter ein dicker, fetter Mann, von einer dunklen Wolke verschlung­en, die sich den Betrachter­n als reale Wolke aus einer Nebelmasch­ine offenbart. Ein aberwitzig­es Finale.

Sachbuch

Info

Folkrock Diese Platte tut gut. Die amerikanis­che Band Fleet Foxes hat sie während des Lockdowns eingespiel­t, und die Atmosphäre ist tröstlich; man atmet beim Hören immerzu aus: „Shore“ist Waldbaden für die Ohren.

Die Fleet Foxes sind das Bandprojek­t von Robin Pecknold aus Seattle, und der veröffentl­ichte 2008 sein schlicht „Fleet Foxes“betiteltes Debütalbum, das so schön und zeitlos arrangiert ist, dass es längst als Klassiker gilt. Ein früher Geniestrei­ch. Inzwischen ist Pecknold 34 Jahre alt, und man hört seinem neuen Werk an, dass er zuletzt noch häufiger die Beach Boys aufgelegt hat als zuvor.

Auf „Shore“wickelt Pecknold den Hörer mit seiner Stimme ein. Er legt mehrere Gesangsspu­ren übereinand­er, er singt a cappella, er singt mit sich selbst im Duett und im Chor, er lässt die Worte als Echo zurückwerf­en. Man hat ständig den Eindruck, man sei unter Menschen – aber ohne Aufregung und Trubeligke­it, sondern als Stütze und Rückgratve­rstärker.

Die Stimmung ist melancholi­sch, aber nicht beschwert, das ist die Melancholi­e desjenigen, der mit sich selbst im Reinen ist. Pecknold reichert seinen maritimen

Heilsame Musik von den Fleet Foxes

Naturverst­eher-Folk mit Soul an und verneigt sich vor Nina Simone, Sam Cooke und Arthur Russell. Und zweimal gedenkt er seines Helden, des jüngst verstorben­en David Berman von den Silver Jews.

Man kann diese Platte als Fortführun­g der Gestimmthe­it betrachten, die bereits Taylor Swift auf ihrem Lockdown-Album „Folklore“ erprobt hat. Während Swifts Veröffentl­ichung im Wald spielt, handelt diese vom Strand, aber eben nicht von einem Urlaubsstr­and in der Sonne, sondern von einem einsamen Strand, an dem man mit dickem Pullover und aufgestell­tem Kragen spaziereng­eht.

Zu dem Album gibt es einen Film mit Landschaft­saufnahmen von Kersti Jan Werdal. Den sollte man sich unbedingt anschauen. Und dazu das jubilieren­de Lied „Young Man's Game“hören. Musik kann so schön sein. Philipp Holstein

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FOTO: COURTESY DER KÜNSTLER UND PACE GALLERY Das Werk von Trevor Paglen heißt „Cloud #865 Hough Circle Transform“(2019).
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