Das schwierige Vaterland
Rechtzeitig zum Tag der Einheit meldet sich Heinrich August Winkler mit einem „Best of “seiner zeitgeschichtlichen Analysen zurück.
„Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens. Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!“Keine Geringeren als die Großmeister des Volkes der Dichter und Denker, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, beschworen mit diesen Worten 1796 in den „Xenien“einen Patriotismus, der sich so ganz anders äußert als der Nationalismus, der sich im Nachbarland nach der Französischen Revolution sieben Jahre zuvor Bahn gebrochen hatte.
Heinrich August Winkler zitiert die Zeilen im ersten Kapitel seines neuen Buches „Wie wir wurden, was wir sind: Eine kurze Geschichte der Deutschen“, um die Ausnahmestellung dieses Volkes innerhalb Europas zu verdeutlichen, das zu jener Zeit nur durch die gemeinsame Sprache und durch große moralische Ansprüche verbunden schien. Doch Sonderwege, so lautet das Fazit des emeritierten Historikers, das pünktlich zum 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung erschienen ist, Sonderwege beschreiten die Deutschen noch immer.
Winkler, 1938 in Königsberg geboren und zuletzt Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, gilt als Historiker des Aufstiegs und der Krise des Westens schlechthin. Auf Tausenden von Seiten hat er das allmähliche Werden und die schwierige Verwirklichung der Ideen von Freiheit und Gleichheit beschrieben, vor allem den langen Weg, der das zerrissene Deutschland in diesen Westen führen sollte. „Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet.“Dieser Satz fiel berechtigterweise erst am 3. Oktober 1990. Ausgesprochen hat ihn der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt zur Wiedervereinigung Deutschlands in der Berliner Philharmonie.
Nun also eine kurze Geschichte der Deutschen, in der sich Winkler auf 250 Seiten beschränkt. Es ist kein Parforceritt durch die Jahrhunderte geworden, sondern eine durchaus leicht zu lesende, pointierte Darstellung der Lektionen aus einer komplizierten, kontrastreichen, widersprüchlichenVergangenheit, welche die Gegenwart prägen.
Einigkeit und Recht und Freiheit besingen die geeinten Deutschen in ihrer Nationalhymne. Doch wie oft fehlte ihnen in ihrer kurzen Geschichte als Nation mindestens einer dieser hehren Werte? Weitaus schlimmer: Wie sehr traten die Deutschen das Recht mit Füßen? Die Bereitschaft, sich dem unvergleichbaren Verbrechen des Holocaust zu stellen, ist im Westen der Bundesrepublik weitaus höher ausgeprägt als im Osten, Verantwortung für das Erbe des Nationalsozialismus übernehmen zu wollen, prägt bis heute die deutsche Politik – allerdings keineswegs immer zum Guten, wie Winkler analysiert. Darin liege vielmehr der Grund für eine „neue deutsche Sendung“, mithin die Ursache für nationale Extratouren, die Deutschland für seine Verbündeten unberechenbar mache.
Das ist eine provokante These, zugleich aber eine, mit der Winkler den Betrachter aus dem Damals direkt ins Jetzt katapultiert, und damit bekommt seine kurze Geschichte der Deutschen den entscheidenden Drive: Es ist spannend zu lesen, wie die Mauer in den 80er Jahren von vielen westdeutschen Intellektuellen nicht länger als Symbol der Unfreiheit der Deutschen, sondern als Mahnmal für die ermordeten Juden wahrgenommen wurde. Wie Günther Grass, der große deutsche Erzähler, auf dem Berliner SPD-Parteitag im Dezember 1989, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, einen deutschen Einheitsstaat wegen Auschwitz ausschloss. Und welche Gegenposition Willy Brandt, der Ehrenvorsitzende der SPD, dazu eingenommen hatte. Winkler: „Nationale Schuld wird nicht durch willkürliche Spaltung einer Nation getilgt.“Tatsächlich war die deutsche Teilung nichts anderes als das Ergebnis des Unvermögens der Alliierten, die deutsche Frage abschließend zu klären, und weniger die Folge der monströsen Verbrechen des NS-Regimes und seiner Mitläufer.
Die Verlockung, diese Schuld tilgen zu können, spielte laut Winkler nicht zuletzt eine Schlüsselrolle beim Flüchtlingsdrama 2015 – im wahren Sinne desWortes. Das Zulassen zig-tausendfacher illegaler Einwanderung nach Deutschland habe nicht nur links der Mitte auf ein verbreitetes Gefühl getroffen, das Land sei nach schrecklichen Irrwegen im Stadium der moralischen Reife angekommen und nunmehr mit sich im Reinen. Selbst Norbert Blüm, Kohls langjähriger Arbeits- und Sozialminister, habe im Überschwange geäußert: „Unser Name war verbunden mit Rassenwahn und Massenmord. Dass wir plötzlich in der Welt als Menschenfreunde dastehen, macht mich froh.“
Dagegen führt Winkler den niederländischen Politologen René Cuperus an, der im Februar 2016 in der „Süddeutschen Zeitung“schrieb: „Wie konnte es passieren, dass die eben noch so vorsichtige Merkel Hals über den Kopf und gegen den Geist Max Webers Gesinnungsüber Verantwortungspolitik stellte? Kann es sein, dass Deutschland die Stabilität seiner Gesellschaft aufs Spiel setzt für seine ewige Vergangenheitsbewältigung, für die Wiedergutmachung der Kriegsschuld?“
Vor mehr als 100 Jahren hatte der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber folgende Begriffe unterschieden: Der Gesinnungsethiker handelt aus einer sittlichen oder religiösen Überzeugung heraus und lässt sich davon auch nicht durch den Hinweis auf mögliche nachteilige Konsequenzen abhalten. Der Verantwortungsethiker hingegen bedenkt, dass man für die Folgen seines Handelns aufkommen muss.
Zu der Idee einer besonderen humanitären Mission Deutschlands habe sich alsbald das Gefühl gesellt, anderen europäischen Völkern in dieser Hinsicht die Richtung weisen zu können, meint Winkler. Das Ergebnis ist bekannt. Die Neigung, das eigene Tun moralisch zu überhöhen, hält er für fatal. Die Bundesrepublik agiere häufig viel nationaler, als es ihrem europäischen Solidaritätspathos und der Beschwörung ihrer Bündnistreue entspreche. Als Beispiel nennt der Historiker die Gaspipeline Nord Stream II, mit der Deutschland Gas aus Russland importieren wolle – vorbei an Polen und der Ukraine. Auch der von Berlin favorisierte Plan einer europäischen Armee scheitere kläglich am deutschen Parlamentsvorbehalt bei „Out of area“-Einsätzen.
„Ein Dreivierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung muss Deutschland sich aus seiner Selbstexzeptionalisierung lösen, die seine Glaubwürdigkeit untergräbt und mit der es sich zu isolieren droht“, schreibt Winkler. „Das wiedervereinigte Deutschland ist ein postklassischer Nationalstaat wie die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch.“
Willkommen in der Wirklichkeit, wie sie Heinrich August Winkler im Jahre 2020 betrachtet – kritisch, aber nie destruktiv. Nicht umsonst hat er seinem Buch einen Gedanken von Gustav Heinemann aus dessen Antrittsrede als Bundespräsident am 1. Juli 1969 vorangestellt: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“
Heinrich August Winkler: Wie wir wurden, was wir sind: Eine kurze Geschichte der Deutschen. 2020, C.H.Beck, 255 S., 22 Euro