„Wir müssen beim Reisen ansetzen“
Der Chef des Bundeskanzleramtes über nicht ausreichende Corona-Maßnahmen, die Nutzung der Warn-App und und einen Staatsakt für die Todesopfer.
Herr Braun, stört Sie etwas an den jüngsten Beschlüssen der Ministerpräsidenten zu Corona?
HELGE BRAUN
Zunächst einmal bin ich froh, dass wir jetzt weiterreichende Beschlüsse haben. Es ist klar geworden: Man muss frühzeitig damit anfangen, bei steigenden Zahlen zu handeln. Und man muss bereit sein, noch stärker einzusteigen, wenn es nicht reicht. Mein Eindruck ist jedoch, dass noch mehr zu tun ist, um eine Umkehr der InfektionsDynamik zu bewirken. Meine Hoffnung ist, dass die Bevölkerung weiß, wie ernst es jetzt ist.Wir müssen weg von „Was darf ich?“hin zum „Was hilft jetzt?“. Wir müssen zur zweiten Welle von Corona auch eine zweite Welle der Vorsicht bekommen.
Wenn es nicht reicht, was fehlt denn noch?
BRAUN
Der Experte Michael Meyer-Hermann hat uns eindringlich vor Augen geführt, dass wir eine Halbierung aller Kontakte in der Gesellschaft erreichen müssen, um eine stabile Seitwärtsentwicklung bei den Corona-Zahlen zu bekommen. Wenn wir Schule und Wirtschaft aufrechterhalten wollen, können wir noch einkaufen gehen, aber unser Freizeitverhalten müssen wir auf ein absolutes Minimum reduzieren. Das vorsichtige Herantasten an Sperrstunden ab 23 Uhr bei 50 Infektionsfällen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen halte ich noch nicht für ausreichend.
Die Andeutung von Berlins Regierendem Bürgermeister, es könne auch 20 Uhr als Sperrstunde kommen, ist eine realistische Option?
BRAUN
Ja, damit wir nicht irgendwann zu noch härteren Maßnahmen greifen müssen. Damit wäre zwar das Abendessen im Restaurant noch möglich. Aber die klassische Geselligkeit in der Gastronomie darf es aus meiner Sicht in den nächsten Wochen nicht geben.
War das Beherbergungsverbot ein Fehler?
BRAUN
Ich habe von Anfang an gesagt, dass das eine problembehaftete Notfallmaßnahme ist. Die öffentliche
Diskussion hat gezeigt, dass es logische Brüche gibt. Etwa bei der Aussagekraft von Tests, die schon Tage vor dem Urlaub genommen wurden. Kritik am Beherbergungsverbot ist berechtigt. Aber wir stehen vor dem Problem, dass Reisen für dieVerbreitung desVirus ein zentrales Element ist. Durch Reisen kam das Virus von China nach Europa, von Ischgl nach Deutschland, und nach den Sommerferien waren 50 Prozent aller Infizierten Reiserückkehrer. Also müssen wir auch beim Reisen ansetzen.
Wer auf die immensen Einschränkungen in Frankreich blickt, schaut der auch auf das, was bald auf Deutschland zukommt?
BRAUN
In der Tat zeigen sich die Verläufe in Frankreich, Spanien und den Niederlanden zeitversetzt auch bei uns. Wir müssen verhindern, dass wir unserem Infektionsgeschehen hinterherlaufen.Wir hatten lange Zeit viel niedrigere Zahlen, weil wir in unserem flächendeckend vorhandenen öffentlichen Gesundheitssystem die Kontaktnachverfolgung besser und vollständiger durchführen konnten. Dahin müssen wir schnell zurückkehren. Wenn wir abwarten, wird es erst zu einer Überlastung des öffentlichen Gesundheitsdienstes kommen. Im zweiten Schritt kommt es dann zu einer Überlastung der Testkapazitäten, und aus beidem resultiert eine Überlastung unseres Gesundheitswesens. Die vollständige Kontaktnachverfolgung ist der zentrale Baustein, um die Infektionskontrolle zu behalten. Ist diese nicht mehr möglich, bleiben nur Beschränkungen zunehmender Intensität übrig.
Zum Maßnahmenpaket gehört die massive Unterstützung durch den Bund für die Gesundheitsämter. Um welche Dimensionen geht es da? Werden da Tausende oder Zehntausende Helfer nötig sein?
BRAUN
Ich hoffe sehr, dass die Hilfe abgerufen wird.Wir schauen auch über die Bundeswehr hinaus, ob wir weitere Personalreserven in der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden mobilisieren können. Ich habe auch die Hoffnung, für die Kontaktnachverfolgung eine größere Zahl von Studierenden zu gewinnen. Dazu sind wir mit der Hochschulrektorenkonferenz im Gespräch, damit die Freiwilligen keine Nachteile im Studium haben. Der Bedarf ist immens. Um eine Kontaktkette über einen Tag nachzuverfolgen, braucht man fünf Mitarbeiter.
Wenn die Infiziertenzahl jetzt um 6000 steigt, sind also 30.000 zusätzliche Kräfte nötig?
BRAUN
Der Bedarf ist enorm, es wird eine fünfstellige Zahl von Helfern benötigt. Dieser Kraftakt ist so gewaltig, dass sich auch die Idee erübrigt, auf einem höheren Niveau von etwa 10.000 Infizierten pro Tag zu verharren und die Kontakte trotzdem nachverfolgen zu können. Das ist nicht realistisch. Die Zahlen müssen runter!
Nach unserem Eindruck leistet die Corona-Warn-App derzeit nicht das, was Sie sich von ihr erhofft hatten. Stimmt das?
BRAUN
Technisch funktioniert die App hervorragend. Ich hoffe, dass jetzt noch mehr Menschen sie herunterladen werden. Denn die Warnungen nehmen derzeit drastisch zu, wir sehen einen steilen Anstieg.
Können Sie den beziffern?
BRAUN
Stand Dienstag, 13. Oktober 2020, haben insgesamt 10.860 positiv getestete Personen eineWarnung über die App an ihre anonymen Kontakte aussenden können. Wie viele Personen dann tatsächlich gewarnt wurden, wissen wir natürlich nicht, weil diese Daten aufgrund des dezentralen Ansatzes der App nicht vorhanden sind.
Die Gesundheitsämter kritisieren jedoch, dass die App keinen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung des Virus leistet.
BRAUN
Die Gesundheitsämter sind unsere schärfsten Kritiker und das bereitet mir Sorge. Diese App ist vollständig anonym. Sie soll das Gesundheitsamt auch künftig nicht bei der personalisierten Kontaktermittlung unterstützen, aber sie stellt ein zusätzliches, unabhängiges und sehr schnelles Instrument dar. 90 Prozent der Labore sind an die App angeschlossen und können den Betroffenen das Corona-Testergebnis sehr schnell mitteilen. Wenn die Menschen dann auch noch unmittelbar die Warnfunktion nutzen, kann die App einen wichtigen Beitrag in dieser zweiten Welle leisten.
In Deutschland sind mittlerweile fast 10.000 Menschen an oder mit Corona verstorben. Wird es einen Staatsakt zum Gedenken der Opfer geben?
BRAUN
Ich spreche mich dafür aus, einen Staatsakt für die Opfer abzuhalten, wenn die Corona-Pandemie imWesentlichen besiegt ist. Im Sommer war die Botschaft, dass Deutschland gut durch die Krise komme. Angehörige, die einen Menschen an das Virus verloren haben, müssen das als extrem zynisch wahrgenommen haben. Ihnen sage ich, dass die Opfer dieser Pandemie unter keinen Umständen vergessen werden. Ich finde, wir sollten zu gegebener Zeit mit einer Gedenkveranstaltung ein Zeichen für sie setzen. JAN DREBES UND GREGOR MAYNTZ FÜHRTEN DAS INTERVIEW.