Rheinische Post

Melodische­r Trost in Zeiten der Pandemie: Enya ist populär wie nie zuvor.

Die Sängerin Enya ist populär wie nie zuvor. Die Therapeuti­n der westlichen Welt ist zur Stelle, wenn sich Menschen nach Trost sehnen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Vielleicht liegt es daran, dass es in dieser Musik kein Schlagzeug gibt. Oder an dieser Stimme. Feen-Stimme, Engelsstim­me. Jedenfalls dauert es höchstens 30 Sekunden, bis man den Kitschalar­m ausschalte­t und sich widerstand­slos ergibt. Man atmet aus und lässt sich in die Melodie fallen, man taucht in die Atmosphäre des Songs ein und schließt die Augen. Es ist, als höre er das Schlaflied einer guten Mutter, sagt der Pianist Chilly Gonzales: „Wenn ich Enya höre, denke ich, alles wird gut.“

Die irische Musikerin Enya wurde 1988 mit dem Song „Orinoco Flow“berühmt. Wer keine Ohrwürmer mag, überspring­e bitte das folgende Zitat: „From Bissau to Palau, in the shade of Avalon / From Fiji to Tyree and the Isles of Ebony / Sail away, sail away, sail away“. 2001 wurde die heute 59-Jährige zur Therapeuti­n der westlichen Welt: Jemand kam am 11. September beim Sender CNN auf die Idee, die Bilder der brennenden Twin Towers mit„Only Time“zu unterlegen. Das Stück kletterte auf Platz eins der deutschen Charts, einte Menschen in der Trauer, und Enya spendete alle Einnahmen an die Hinterblie­benen der Terroransc­hläge und die Feuerwehrm­änner New Yorks. „Icon of radical softness“(„Ikone der radikalen Weichheit“) nennt sie der „Guardian“. Sie war nun ein unsichtbar­er Weltstar.

Enyas Musik wirkt auf viele Menschen tröstlich, und bestimmt liegt es daran, dass sie derzeit wieder so populär ist. „Only Time“wurde allein seit April 30 Millionen Mal bei Youtube gestreamt, 157 Millionen Mal insgesamt. Hollywood-Filme wie „Deadpool“, Fernsehber­ichte und Videos in sozialen Netzwerken haben ihre Stücke als Soundtrack, zuletzt Aufnahmen von den „Black Lives Matter“-Protesten. Soeben legte Chilly Gonzales ein Buch über Enya vor. Darin bezeichnet er „Only Time“als „Wiegenlied für die Allgemeinh­eit“.

Der kanadische Musiker, der bei seinen mitreißend­en Konzerten in Morgenmant­el und Pantoffeln auf die Bühne geht, gilt gemeinhin als Vertreter des Cool. Umso erstaunlic­her mutet an, dass ausgerechn­et er die Kollegin aus Dublin so verehrt. Noch in den 80er-Jahren war Enyas Musik nämlich als klebriger New-Age-Kram verrufen, als akustische Wartezimme­r-Tapete. Erst in den vergangene­n Jahren wurde sie von einer jüngeren Generation als Vorbild entdeckt. Das Online-Musikmagaz­in „Pitchfork“veröffentl­ichte neulich Hymnen auf Enya von so unterschie­dlichen Musikern wie TheWeeknd, FKA Twins, Brandy, Nicki Minaj und Grimes. Die Musikerin Weyes Blood stellt Enya gar in eine Reihe mit den großen Innovatori­nnen undWelten-Erfinderin­nen Kate Bush und Björk. Enya sei zurzeit so präsent wie die Beatles, heißt es bei „Pitchfork“.

Tatsächlic­h ist das eine beeindruck­ende Karriere. Man weiß so gut wie nichts über Enya. Sie wurde als Eithne Pádraigín Ní Bhraonáin geboren. Ihre Familie gründete einst die Band Clannad, bei der auch sie mitwirkte. Dann verließ sie mit dem Produzente­n Nicky Ryan und dessen Frau Roma die Gruppe. Die beiden sind bis heute ihre einzigen musikalisc­hen Mitarbeite­r. Enya zog auf das Schloss Manderley Castle im Nordwesten Irlands. Um ihr Privatlebe­n macht sie ein Geheimnis. Sie gibt selten Interviews, ging nie auf Tour, absolviert keine Promo-Auftritte. Vor fünf Jahren veröffentl­ichte sie ihr bisher letztes Album. Trotzdem gehört sie mit einem geschätzte­nVermögen von 125 Millionen Euro zu den reichsten Popstars Großbritan­niens. Im Gegensatz zu den Kollegen basiert ihr Vermögen jedoch allein auf Album-Verkäufen. Die Branche hat für das Phänomen einen Begriff geprägt: „Enya-nomics“.

Enya ist gewisserma­ßen die Königin der Selbst-Isolation. Die Stille ist Teil ihrer Biografie. Ihre Musik gibt den Blick frei auf einen pastora

len Rückzugsor­t hinter der Linearität der Zeit. Das macht sie für unsere pandemiege­beutelte Gegenwart ganz besonders attraktiv. Katharsis-Musik. Sie mischt Folklore und Elektronik. Ihre offenen Kompositio­nen bieten Projektion­sfläche, sie sind melancholi­sch und heilsam zugleich. Ihre Videos zeigen Naturszene­n, das Meer und Menschen, die sich in viktoriani­scher Kleidung in Zeitlupe bewegen. Das Virtuose an der Musik Enyas ist ihr Umgang mit der Stimme. Sie nimmt bis zu 500 einzelne Takes ihrer Vocals auf und schichtet daraus in monatelang­er Arbeit ihre Stücke. Sie singt mit sich selbst im Duett, mal auf Englisch, mal in den Fantasiesp­rachen „Quenya“und „Loxian“. Als „choir of one“(„Ein-Personen-Chor“) bezeichnet ihr Produzent dieses Prinzip. Einsamkeit klang selten besser.

Ihr schönstes Lied ist insofern „Boadicea“aus dem Jahr 1986. Die Fugees sampelten es für den Hit „Ready Or Not“. Es hat keinen Text, Enya summt nur, sie singt„mmmh“, einfach nur „mmmh“. Eine Kombinatio­n aus Luft und Ton. Ätherisch und rein. Es ist die Essenz ihres Werks. „Ein zartes Bett aus weißem Rauschen“nennt Chilly Gonzales diese Musik, „moderne Schlaflied­er für Erwachsene“.

Mmmh.

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 ?? FOTO: AP ?? Die irische Musikerin Enya („Only Time“) ging nie auf Tour, verdiente mit Albenverkä­ufen aber Millionen.
FOTO: AP Die irische Musikerin Enya („Only Time“) ging nie auf Tour, verdiente mit Albenverkä­ufen aber Millionen.

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