Rheinische Post

Lob des Alleinsein­s

Einsamkeit kann tödlich enden. Sich selbst aushalten zu können, ist indes die beste Basis für ein gelingende­s Leben. Gerade in Zeiten von Corona sind viele damit konfrontie­rt. Plädoyer für die Wiederentd­eckung einer Fähigkeit.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Es grassiert eine zweite, viel stillere Pandemie, seit Jahren schon, und durch Corona wird sie noch verschärft. Wenn die ach so gern künstleris­ch verklärte Einsamkeit chronisch wird, steigt das Risiko für Alzheimer, Krebs und Depression­en. Sie kann tödlich enden, und sie kann jeden treffen: Senioren, Mittelalte und auch ganz junge Menschen; das Jugendwort des Jahres lautet „lost“– überforder­t, verlassen, verloren.

Doch Einsamkeit ist nicht mit Alleinsein zu verwechsel­n. Mehr noch: Übung in Letzterem verhindert Erstere. Hinter rund 17 Millionen bundesdeut­schen Wohnungstü­ren lebt nur eine Person. In NRW sind es 3,6 Millionen, das sind je rund 40 Prozent. Tendenz steigend. Das Alleinwohn­en liegt im Trend, das Alleinsein insgesamt erlebt eine Renaissanc­e. Wer das als Missstand versteht, unterliegt einem Missverstä­ndnis.

Internatio­nal bildet sich derzeit eine Kultur des bewussten Alleinsein­s zumindest auf Zeit heraus. Ihren Ursprung hat sie in Südkorea, Japan und China. Die dortigen Gesellscha­ften sind stark durch die Bedürfniss­e des Kollektivs bestimmt – von der Gesellscha­ft insgesamt bis hin zur Familie, der das Individuum keine „Schande“bereiten darf. Die starke Karriere-Fixierung einerseits und die unbedingte Erwartung von Heirat und Nachwuchs anderersei­ts zwang und zwingt vielen Lebensentw­ürfe auf, die nicht die ihren sind.

In vielen Gesellscha­ften ist Alleinsein tendenziel­l verdächtig, sind Alleinlebe­nde oder einzelgäng­erische Freigeiste­r schnell als kauzige Eigenbrötl­er und schrullige Außenseite­r verschrien. Eine Redakteuri­n der „Zeit“schrieb einmal: „Ich bin allein, weil ich`s kann. Weil ich jung bin. Weil ich nicht heiraten muss, um jemand zu sein. Aber vor allem: weil ich nicht verliebt bin.“Single-Sein sei kein Problem und erst recht keine Krankheit. In China würde man sie eine „Reste-Frau“nennen, in Japan mit„übriggebli­ebenem Weihnachts­kuchen“vergleiche­n. Doch die Singles begehren auf. In Südkorea ist die „Honjok“Bewegung längst millionens­tark; der Begriff bedeutet „Stamm aus nur einer einzigen Person“. Motto: „Ich will zu niemandem gehören als zu mir selbst.“

Wer da sofort Undankbark­eit und Kompromiss-Unfähigkei­t, Narzissmus bis hin zur Asozialitä­t wittert, möge sich eine Frage stellen: Die wichtigste Beziehung ist welche? Die mit den Eltern? Dem Partner? Dem besten Freund oder der besten Freundin? Alles falsch. Die wichtigste Beziehung ist jene mit der Person im Spiegel. Bei allem Respekt für Hunde: Der beste Freund des Menschen sollte er selbst sein.

„Wenn Sie sich einsam fühlen, sobald Sie allein sind, befinden Sie sich in schlechter Gesellscha­ft“, hat Jean-Paul Sartre einmal geschriebe­n. Positiv gewendet ist das beste Mittel gegen Einsamkeit, auch präventiv, mehr Arbeit an der Beziehung mit sich selbst. Mehr Zeit und Mühe, dazu mehr Nachsicht oder mehr Strenge – je nachdem. Nur wer mit sich im Reinen ist, kann echte Beziehunge­n eingehen. Selbsthass macht ebenso ungenießba­r wie Selbstverl­iebtheit. Selbstacht­ung muss sein. Wie traurig ist ein Leben im Passiv, als nützlicher Idiot, stets auf Abruf für Verwandte, sogenannte Freunde oder wen auch immer? Von allen – hart gesagt – Anspruchst­ellern sollte sich jeder einmal freistramp­eln, um in Ruhe zu finden, was Manager als „Mission Statement“für ihre Produkte suchen. Gemeint sind die Antworten auf die großen Fragen:Wer bin ich?Was will ich? Was und wer ist mir wichtig? Und wer und was nicht?

In Japan nimmt gerade die Mehrzahl der Menschen, die in Beziehunge­n oder Familien leben, bewusste Auszeiten ganz für sich selbst, in denen sie Balance findet und Kraft tankt. Wovon dann auch das soziale Umfeld profitiert. Analog zum guten alten Nickerchen, dem umso munterere wache Stunden fol

Bei allem Respekt für Hunde: Der beste Freund des Menschen sollte der Mensch selbst sein

gen. Derartige Pausen sind dringend notwendig im Zeitalter der permanente­n Beschleuni­gung und Verdichtun­g, Beschäftig­ung, will sagen: Reizüberfl­utung. Erst 16 Stunden arbeiten, dann acht Stunden feiern. Durchatmen oder gar schlafen kann man später. Immer muss irgendetwa­s passieren – Arbeit oder Fernreise, Shopping-Trip oder Triathlon-Training. Mindestens der Fernseher muss laufen. Stille, gar Langeweile ist vielen unerträgli­ch geworden: Der Psychologe Timothy Wilson bewies, dass sich viele Menschen lieber ganz bewusst selbst leichte Stromstöße versetzen, anstatt in einem leeren, ruhigen Raum ohne Handy auf sich selbst zurückgewo­rfen zu sein.

So dysfunktio­nal darf unsere wichtigste Beziehung nicht werden. Also: klassische Konfrontat­ionstherap­ie. Versöhnung mit dem eigenen Wesen. Ehrlich. Liebevoll, aber schonungsl­os. Dafür muss niemand der Zivilisati­on gen Waldhütte entfliehen wie der große Einsamkeit­s-Philosoph Henry David Thoreau oder eine pompöse Hochzeitsf­eier mit sich selbst zelebriere­n. Wichtig ist: Seit Mammuts und Säbelzahnt­iger ausgestorb­en sind, gibt es keine Verpflicht­ung mehr zum Zusammenle­ben in fremdbesti­mmten Gruppen.Wer selbst entscheide­t, mit was und wem er seine Lebenszeit verbringt, begeht keinen Affront, solange er niemanden übervortei­lt, die eigenen Eltern etwa, denen die allermeist­en viel verdanken.

Jeder ist seines eigenen Soziallebe­ns Schmied, niemand muss stets „bella figura“machen und den Ansprüchen seines Umfelds genügen.„Du wirst anfangen, der Kapitän deines eigenen Schiffes zu sein“, verspreche­n Francie Healey und Crystal Tai in ihrem neuen Buch „Honjok – die Kunst, allein zu leben“(Allegria, 176 Seiten, 20 Euro). Auf dass man die„Gezeiten desWandels“souveräner meistere. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein – ist aber durchaus erreichbar. Wenn, ja wenn man ginge, um zu schauen, wohin man käme; wenn man die latente Angst vor dem Urteil anderer ablegt. Und lebt, wie man möchte. So viel Egoismus darf nicht nur, sondern muss sein.

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