Lob des Alleinseins
Einsamkeit kann tödlich enden. Sich selbst aushalten zu können, ist indes die beste Basis für ein gelingendes Leben. Gerade in Zeiten von Corona sind viele damit konfrontiert. Plädoyer für die Wiederentdeckung einer Fähigkeit.
Es grassiert eine zweite, viel stillere Pandemie, seit Jahren schon, und durch Corona wird sie noch verschärft. Wenn die ach so gern künstlerisch verklärte Einsamkeit chronisch wird, steigt das Risiko für Alzheimer, Krebs und Depressionen. Sie kann tödlich enden, und sie kann jeden treffen: Senioren, Mittelalte und auch ganz junge Menschen; das Jugendwort des Jahres lautet „lost“– überfordert, verlassen, verloren.
Doch Einsamkeit ist nicht mit Alleinsein zu verwechseln. Mehr noch: Übung in Letzterem verhindert Erstere. Hinter rund 17 Millionen bundesdeutschen Wohnungstüren lebt nur eine Person. In NRW sind es 3,6 Millionen, das sind je rund 40 Prozent. Tendenz steigend. Das Alleinwohnen liegt im Trend, das Alleinsein insgesamt erlebt eine Renaissance. Wer das als Missstand versteht, unterliegt einem Missverständnis.
International bildet sich derzeit eine Kultur des bewussten Alleinseins zumindest auf Zeit heraus. Ihren Ursprung hat sie in Südkorea, Japan und China. Die dortigen Gesellschaften sind stark durch die Bedürfnisse des Kollektivs bestimmt – von der Gesellschaft insgesamt bis hin zur Familie, der das Individuum keine „Schande“bereiten darf. Die starke Karriere-Fixierung einerseits und die unbedingte Erwartung von Heirat und Nachwuchs andererseits zwang und zwingt vielen Lebensentwürfe auf, die nicht die ihren sind.
In vielen Gesellschaften ist Alleinsein tendenziell verdächtig, sind Alleinlebende oder einzelgängerische Freigeister schnell als kauzige Eigenbrötler und schrullige Außenseiter verschrien. Eine Redakteurin der „Zeit“schrieb einmal: „Ich bin allein, weil ich`s kann. Weil ich jung bin. Weil ich nicht heiraten muss, um jemand zu sein. Aber vor allem: weil ich nicht verliebt bin.“Single-Sein sei kein Problem und erst recht keine Krankheit. In China würde man sie eine „Reste-Frau“nennen, in Japan mit„übriggebliebenem Weihnachtskuchen“vergleichen. Doch die Singles begehren auf. In Südkorea ist die „Honjok“Bewegung längst millionenstark; der Begriff bedeutet „Stamm aus nur einer einzigen Person“. Motto: „Ich will zu niemandem gehören als zu mir selbst.“
Wer da sofort Undankbarkeit und Kompromiss-Unfähigkeit, Narzissmus bis hin zur Asozialität wittert, möge sich eine Frage stellen: Die wichtigste Beziehung ist welche? Die mit den Eltern? Dem Partner? Dem besten Freund oder der besten Freundin? Alles falsch. Die wichtigste Beziehung ist jene mit der Person im Spiegel. Bei allem Respekt für Hunde: Der beste Freund des Menschen sollte er selbst sein.
„Wenn Sie sich einsam fühlen, sobald Sie allein sind, befinden Sie sich in schlechter Gesellschaft“, hat Jean-Paul Sartre einmal geschrieben. Positiv gewendet ist das beste Mittel gegen Einsamkeit, auch präventiv, mehr Arbeit an der Beziehung mit sich selbst. Mehr Zeit und Mühe, dazu mehr Nachsicht oder mehr Strenge – je nachdem. Nur wer mit sich im Reinen ist, kann echte Beziehungen eingehen. Selbsthass macht ebenso ungenießbar wie Selbstverliebtheit. Selbstachtung muss sein. Wie traurig ist ein Leben im Passiv, als nützlicher Idiot, stets auf Abruf für Verwandte, sogenannte Freunde oder wen auch immer? Von allen – hart gesagt – Anspruchstellern sollte sich jeder einmal freistrampeln, um in Ruhe zu finden, was Manager als „Mission Statement“für ihre Produkte suchen. Gemeint sind die Antworten auf die großen Fragen:Wer bin ich?Was will ich? Was und wer ist mir wichtig? Und wer und was nicht?
In Japan nimmt gerade die Mehrzahl der Menschen, die in Beziehungen oder Familien leben, bewusste Auszeiten ganz für sich selbst, in denen sie Balance findet und Kraft tankt. Wovon dann auch das soziale Umfeld profitiert. Analog zum guten alten Nickerchen, dem umso munterere wache Stunden fol
Bei allem Respekt für Hunde: Der beste Freund des Menschen sollte der Mensch selbst sein
gen. Derartige Pausen sind dringend notwendig im Zeitalter der permanenten Beschleunigung und Verdichtung, Beschäftigung, will sagen: Reizüberflutung. Erst 16 Stunden arbeiten, dann acht Stunden feiern. Durchatmen oder gar schlafen kann man später. Immer muss irgendetwas passieren – Arbeit oder Fernreise, Shopping-Trip oder Triathlon-Training. Mindestens der Fernseher muss laufen. Stille, gar Langeweile ist vielen unerträglich geworden: Der Psychologe Timothy Wilson bewies, dass sich viele Menschen lieber ganz bewusst selbst leichte Stromstöße versetzen, anstatt in einem leeren, ruhigen Raum ohne Handy auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.
So dysfunktional darf unsere wichtigste Beziehung nicht werden. Also: klassische Konfrontationstherapie. Versöhnung mit dem eigenen Wesen. Ehrlich. Liebevoll, aber schonungslos. Dafür muss niemand der Zivilisation gen Waldhütte entfliehen wie der große Einsamkeits-Philosoph Henry David Thoreau oder eine pompöse Hochzeitsfeier mit sich selbst zelebrieren. Wichtig ist: Seit Mammuts und Säbelzahntiger ausgestorben sind, gibt es keine Verpflichtung mehr zum Zusammenleben in fremdbestimmten Gruppen.Wer selbst entscheidet, mit was und wem er seine Lebenszeit verbringt, begeht keinen Affront, solange er niemanden übervorteilt, die eigenen Eltern etwa, denen die allermeisten viel verdanken.
Jeder ist seines eigenen Soziallebens Schmied, niemand muss stets „bella figura“machen und den Ansprüchen seines Umfelds genügen.„Du wirst anfangen, der Kapitän deines eigenen Schiffes zu sein“, versprechen Francie Healey und Crystal Tai in ihrem neuen Buch „Honjok – die Kunst, allein zu leben“(Allegria, 176 Seiten, 20 Euro). Auf dass man die„Gezeiten desWandels“souveräner meistere. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein – ist aber durchaus erreichbar. Wenn, ja wenn man ginge, um zu schauen, wohin man käme; wenn man die latente Angst vor dem Urteil anderer ablegt. Und lebt, wie man möchte. So viel Egoismus darf nicht nur, sondern muss sein.