Heimvorteil schwindet bei Geisterspielen
Vor mehr als einem halben Jahr wurde das letzte Mal Fußball in einem vollen Bundesliga-Stadion gespielt. Ein Sportpsychologe erklärt, welchen Einfluss das Fehlen der Fans auf das Spiel hat und warum sich einiges verändert.
DÜSSELDORF„ Der Fußball lebt durch seine Fans“. Diese Protestbotschaft prangt auf so manchem Transparent, seit der deutsche Profifußball im Mai nach der Corona-Zwangspause vor leeren Tribünen den Spielbetrieb wieder aufgenommen hat. Nun sind die Gesänge und Kurven – die Fan-Kultur, die sich um das Spiel gebildet hat – die Dinge, die König Fußball und seine Faszination besonders ausmachen. Die Unterstützung von den Rängen wird im Fußballkosmos als wesentlicher Faktor für den Erfolg der Spieler auf dem Rasen gesehen, die Fans gerne als zwölfter Mann bezeichnet. Ist das Spiel auf dem Rasen ohne seine spezielle Atmosphäre also ein anderes geworden?
Die Zahlen legen nahe, dass ohne Fans der Heimvorteil verschwunden ist. Gewannen die Bundesliga-Klubs in den vergangenen sieben Jahren immer zwischen 44 und 49 Prozent ihrer Heimspiele, aber nur zwischen 26 und 32 Prozent ihrer Auswärtsspiele, sieht es nun anders aus: Von den 86 Spielen der abgelaufenen Saison nach dem Restart siegten die Vereine nur in 30 Prozent ihrer Heimspiele, aber in 44 Prozent ihrer Auswärtsspiele. In der laufenden Saison ist es beinahe pari: 33 zu 36 Prozent. „Während die Spieler es anfänglich als ungewohnt empfanden, in leeren oder fast leeren Stadien zu spielen, glaube ich, dass sie sich mittlerweile daran gewöhnt haben“, sagt Fabian Pels, Sportpsychologe am psychologischen Institut der Sporthochschule Köln. „Sie wissen, wie es sich anfühlt, wie sie damit umgehen können, welche Vorteile die Situation kommunikativ bietet“.
Die Psyche eines Fußballspielers, so beschreibt es Pels, funktioniere über Routinen und Erfahrungen mit bestimmten Situationen. Wenn sich nun etwas an der Wettkampfsituation verändere, bedeute das Stress, auf den verschiedene Spielertypen unterschiedlich reagieren würden: „Es gibt solche, die neue Umstände als Herausforderung betrachten, die sie meistern wollen — in den sich beweisen wollen“, sagt Pels. „Und dann gibt es andere, die das eher als starke Bedrohung wahrnehmen. Das kann dazu führen, dass sie nicht die Leistung abrufen können, zu der sie imstande wären. Weil sie aufgeregt und hektisch sind.“Das gewohnte Grundrauschen im Stadion könne also Sicherheit geben und routinemäßige Spannung beim Spieler erzeugen, die für die Optimalleistung notwendig sei. Tatsächlich waren zu Beginn der Geisterspiele vermehrt die Klagen der Spieler ob der tristen Kulisse zu hören. Nun sagte Eintracht-Torhüter Kevin Trapp bei„Wer wird Millionär?“: wenn er zuschaue, vermisse er die Fans, auf dem Platz aber blende er das Drumherum aus.
„Die Forschungslage zeigt, dass der Heimvorteil aber auch schon vor Corona zunehmend geringer geworden ist und nicht zwangsläufig an die Anzahl der Fans oder die Auslastung des Stadions geknüpft ist“, sagt Pels und bezieht sich auf eine Studie von britischen und australischen Wissenschaftlern von 2007 und eine Studie aus Amerika und Spanien von 2013. Letztere untersuchte 170.000 Spiele in 157 Nationen. Die Forscher stellten vor allem in den größeren Ländern einen klaren Heimvorteil fest, in den kleinen nur einen geringen und machten deshalb vor allem Faktoren wie Reisestrapazen, die ungewohnte Umgebung und fremde Abläufe für die niedrigeren Erfolgschancen von Auswärtsmannschaften verantwortlich. Die Studie von 2007 stellte fest, dass sich der Fußball zunehmend professionalisiert habe und die Profis immer besser psychologisch auf für sie fremde Situationen vorbereitet würden.
Dennoch dürfe man die Fans nicht außen vor lassen, sagt Pels:
„Ich glaube, dass die aktuelle Situation weder negativ noch positiv ist, aber dass es einen positiven Effekt haben könnte, wenn die Fans im Stadion wieder mehr werden sollten und richtige Unterstützung von den Rängen kommt.“Das hänge aber auch vom jeweiligen Verein ab.„Bei einemVerein wie Union Berlin, der sehr stark von seiner eigenen Identität und den Fans lebt, ist es sicher was anderes als bei einem Klub, bei dem die Fans vielleicht kein immenser Bestandteil der Fußballkultur sind.“
Eine andere Beobachtung der laufenden Saison sind die Vielzahl an Toren. In Englands Premier League sind es im Schnitt 3,7 pro Spiel – so viele wie noch nie. Einige Experten auf der Insel vertreten die These, dass die Spieler ohne Fans mitunter befreiter aufspielen können, weil sie kein Raunen, Pfeifen oder sonstige Unmutsbekundungen fürchten müssen. „Das könnte definitiv sein, wobei man das in beide Richtungen deuten kann: Bei den einen kann Pfeifen dazu führen, dass sie verängstigt sind und kein Tor schießen, bei anderen, dass sie umso konzentrierter spielen, weil sie wollen, dass die negativen Reaktionen aufhören“, erklärt Pels.
Er hält eine andere Variable für schlüssiger: Der schlechte körperliche wie geistige Zustand der Spieler, die im Sommer kaum Erholung hatten und durch den verdichteten Terminkalender von Spiel zu Spiel hetzen müssen. Gerade vom Kopf her müsse man sich immer wieder erholen und neu auf Spiele fokussieren. Sei das nicht gegeben, mangele es an Konzentration und Konsequenz: Fehler beim Verteidigen und im Aufbauspiel könnten die Folge sein, sagt Pels: „Das hat man gerade beim Spiel Deutschland gegen Schweiz gesehen.“Die geistige Müdigkeit könnte auch die zuletzt überraschend hohen Niederlagen der europäischen Top-Teams erklären.