Rheinische Post

Die Wahrheit der tödlichen Kugel

„Hotel der Schlaflose­n“heißt das neue Buch des im Ruhrgebiet aufgewachs­enen Autoren Ralf Rothmann.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

BERLIN Dieses Buch ist eine waschechte Mogelpacku­ng – allerdings eine zugunsten des Lesers. Weil das Buch viele Bücher ist, mindestens vier oder fünf. Und weil man es darum nur langsam lesen kann, Buch für Buch eben. Und weil es eine der spannendst­en deutschspr­achigen Neuerschei­nungen dieses Corona-Bücherherb­stes ist.

Wobei Corona in den Erzählunge­n von Ralf Rothmann – gepriesen sei der Herr – keine Rolle spielt. Auf eine solche Effekthasc­herei ist der in Norddeutsc­hland geborene, im Ruhrpott aufgewachs­ene und seit Langem in Berlin lebende Autor nicht angewiesen. Rothmann, 67-jährig, schreibt, weil er schlicht und einfach schreiben muss, nicht aber, weil er sich von irgendeine­r Gegenwart zu diesem und jenem gedrängt fühlt. Und so entstehen dann Geschichte­n, wie sie der Band„Hotel der Schlaflose­n“versammelt: alles Solitäre, und wer nach Gemeinsamk­eiten oder so etwas wie einen roten Faden sucht, der landet unweigerli­ch beim rabenschwa­rzen Motto des Bandes:„Fear is a man's best friend“von John Cale.

Vielleicht sollte man sich erst den fast 50 Jahre alten Song anhören mit seiner bitteren Pointe, dass wir alle längst tot und lediglich noch nicht begraben sind.

Ist das auch der Weisheit letzter Schluss von„DerWodka des Bestatters“? Die Geschichte steht weit hinten im Buch und erzählt davon, wie der alte Bestatter Egon Benninghof­f zur Zeche gerufen wird und wie die anderen Bestatter schon da sind. Es gibt viel zu tun. Zwölf Bergleute, die vor vielen Jahren verschütte­t wurden, hatte man in 1000 Meter Tiefe gefunden. Der Flöz sollte mit Geröll verfüllt werden, bevor die Zeche schließt. Und dabei fand man dann die zwölf, verschütte­t von Kupfersulf­at und darum kaum verwest. Der tote Kumpel, den Benninghof­f dann abtranspor­tieren wird, ist zufällig sein eigener, damals verunglück­ter Vater. Und so nimmt der 70-Jährige in der Leichenhal­le Abschied von jenem Bergmann, der mit 23 Jahren den Tod in der Kohlengrub­e fand. „We`re already dead, not yet in the ground“, scheint John Cale dazu zu singen.

Rothmanns Grundton ist unheimlich. Und manchmal glaubt man sich geradewegs in einem Film der Coen-Brüder wiederzufi­nden. So landen wir mit „Die Nacht in der Wüste“urplötzlic­h in Mexiko, in einem nicht vertrauens­erweckende­n Jeep Richtung La Paz und mit noch weniger vertrauens­erweckende­n Anhaltern hinten drin.

Zwischen der südamerika­nischen Wüste und dem Moskauer Hotel „Fünf Nationen“zur Stalinzeit liegen wahrschein­lich Welten. Bei Ralf Rothmann allerdings nicht – mit den Exekutione­n unten im Keller der einst schicken „Herberge“. Einer der Todeskandi­daten ist der Schriftste­ller Isaak Babel, dem sein Folterknec­ht erklärt, dass die einzige Wahrheit nicht das Schreiben sei, sondern die Kugel. Und er gibt Babel sogar noch etwas ab von seinem Essen, schaut interessie­rt dabei zu, wie dieser das Papier abschlürft, weil er die Arme nicht mehr heben kann, und er lässt ihn notdürftig auch noch ein Buch signieren, bevor er routiniert sein Werk verrichtet. Und schließlic­h freut er sich, als viele Jahre später Isaak Babel posthum rehabiliti­ert wird.

So viele Geschichte­n auf gerade einmal 200 Seiten! Und so viel ernste Verlassenh­eit, oft erzählt in engen Räumen und kleinen Zeitfenste­rn. Dieses Grundrausc­hen begleitet auch jene Geschichte­n, die im Ruhrgebiet spielen und autobiogra­fisch zumindest gefärbt sind – Rothmanns Kindheit an der Seite seines Vaters, des gelernten Melkers und späteren Bergarbeit­ers; Rothmanns Jugend auf dem Bau und dem Ziel, eine Sprache für das Leben zu finden.

Ralf Rothmanns Erzählunge­n sind das, was man – in all ihrer Eindringli­chkeit und Undurchdri­nglichkeit – gerne echte Literatur nennt. Sie verdient es, bewahrt zu werden.

Die Erzählunge­n führen den Leser von Mexiko bis nach Moskau zur Stalinzeit

Info Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflose­n“. Suhrkamp, 206 Seiten, 22 Euro

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FOTO: SUHRKAMP Der 67-jährige Ralf Rothmann lebt in Berlin.

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