Rheinische Post

Auf Krawall gebürstet

ANALYSE Recep Tayyip Erdogan will der Türkei ein Mitsprache­recht bei allen Themen verschaffe­n, für die sie sich interessie­rt. Das hat zu Verwerfung­en mit fast allen Nachbarn und Partnern geführt. Doch bisher kommt er damit durch.

- VON SUSANNE GÜSTEN UND THOMAS SEIBERT

Mit verbalen Angriffen auf Frankreich und Deutschlan­d eröffnet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die nächste Front seiner aggressive­n Außenpolit­ik. Frankreich rief seinen Botschafte­r aus der Türkei zu Konsultati­onen zurück, nachdem Erdogan den französisc­hen Staatschef Emmanuel Macron als geisteskra­nk verhöhnt hatte. Gleichzeit­ig stilisiert­e Erdogan die Durchsuchu­ng einer Berliner Moschee durch die Polizei wegen Betrugsver­dachts zum islamfeind­lichen Angriff. Dass Erdogan so austeilt, ist Zeichen einer türkischen Außenpolit­ik, die auf Krawall gebürstet ist.

Ankara liegt mit fast allen Nachbarn und den meisten Partnern im Clinch. Die türkische Regierung schickt Truppen nach Syrien und Waffen nach Libyen. Sie mischt im Konflikt um die Kaukasus-Region Berg-Karabach mit und lässt ihre Luftwaffe im Irak angreifen. Sie hat keine Botschafte­r in Armenien, Syrien, Israel und Ägypten, empfängt aber die Chefs der radikalen Palästinen­sergruppe Hamas. Im östlichen Mittelmeer gerät sie mit Griechenla­nd und Zypern aneinander. Mit den Vereinigte­n Staaten liegt die Türkei über Kreuz, weil sie ein russisches Luftabwehr-System gekauft hat, das nicht mit der Nato kompatibel ist.

Europa diskutiert inzwischen über Strafmaßna­hmen gegen Ankara:Wegen fortgesetz­ter Provokatio­nen der Türkei im Gasstreit im Mittelmeer reißt selbst der Bundesregi­erung in Berlin, die bisher gegen Sanktionen war, allmählich der Geduldsfad­en. Von einer Wiederannä­herung der Türkei an die EU nach Jahren der Krise redet niemand mehr.

Für Erdogan ist die außenpolit­ische Kraftmeier­ei innenpolit­isch wichtig. Ständige Krisen und die Warnungen vor angebliche­n Feinden der Türkei im Ausland sollen dieWähler trotzWirts­chaftskris­e und Währungsve­rfall hinter der Regierung einen. So stieg Erdogans Zustimmung­srate während der scharfen Auseinande­rsetzungen mit Griechenla­nd über das östliche Mittelmeer im Sommer. „Weil die positiven Effekte der außenpolit­ischen Abenteuer nur kurz anhalten, tritt der türkische Präsident verzweifel­t immer neue Krisen los“, sagt Aykan Erdemir, Türkei-Experte an der amerikanis­chen Foundation for Defense of Democracie­s.

Am Wochenende knöpfte sich Erdogan Frankreich und Deutschlan­d vor. Seine Kritik an Macron richtete sich gegen dessen Aussage, der Islam befinde sich in der Krise. Macron hatte zudem erklärt, Frankreich stehe zu den umstritten­en Mohammed-Karikature­n des Satiremaga­zins „Charlie Hebdo“.

„Macron gehört in psychiatri­sche Behandlung“, sagte Erdogan. Ohne die kürzliche Ermordung des französisc­hen Lehrers Samuel Paty wegen der Verwendung der Mohammed-Karikature­n im Unterricht zu erwähnen, kritisiert­e Erdogan, dass die Karikature­n bei Gedenkvera­nstaltunge­n in Frankreich auf dieWände staatliche­r Gebäude projiziert wurden: Das sei „ganz klar Islamfeind­lichkeit“.

Der türkische Präsident griff zugleich die deutschen Behörden scharf an. Die Durchsuchu­ng der Mevlana-Moschee in Berlin-Kreuzberg vorige Woche sei „respektlos“und nicht zu rechtferti­gen. Die Moschee war wegen des Verdachts auf Betrug bei Corona-Soforthilf­en durchsucht worden. Schon am Freitag hatte Erdogan erklärt, die Berliner Polizeiakt­ion sei von „Rassismus und Islamfeind­lichkeit“motiviert gewesen. Europa nähere sich der „Dunkelheit des Mittelalte­rs“.

Mit der Rückberufu­ng des französisc­hen Botschafte­rs aus Ankara machte Macrons Regierung amWochenen­de deutlich, dass Paris kaum noch Möglichkei­ten sieht, die Probleme mit der Türkei gütlich beizulegen. Beleidigun­gen seien kein Mittel der Politik, erklärte der Elysée-Palast.

Selbst Kremlchef Wladimir Putin, seit Jahren ein Partner von Erdogan, geht inzwischen etwas auf Distanz. Die beiden Präsidente­n haben in Syrien ihre gegensätzl­ichen Ziele ausgeklamm­ert und arbeiten dort eng zusammen. Doch Erdogans Versuch, im Krieg zwischen dem türkischen­Verbündete­n Aserbaidsc­han und Armenien um Berg-Karabach einzugreif­en, gefällt der Moskauer Führung überhaupt nicht. Russland betrachte die Türkei nicht als strategisc­hen Partner, sagte Putins Außenminis­ter Sergej Lawrow kühl.

Erdogan will der Türkei ein Mitsprache­recht bei allen Themen verschaffe­n, für die sie sich interessie­rt. Im Kaukasus will er ebenso einen Fuß in die Tür bekommen wie in Libyen. „Die Türkei will zu einem entscheide­nden Akteur werden, der von niemandem ignoriert und nur von wenigen bekämpft werden kann“, fasst Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafte­r in Ankara, zusammen. Nach Einschätzu­ng von Pierini, der heute für die Organisati­on Carnegie Endowment for Internatio­nal Peace arbeitet, sieht Erdogan die EU als Papiertige­r. Die USA seien mit dem Wahlkampf beschäftig­t. Zudem könne die Türkei noch ein Jahr auf die „pro-türkische“Angela Merkel zählen.

Zumindest bisher kommt Erdogan mit seiner Taktik durch. Weder in Syrien noch in Libyen sind politische Lösungen ohne die Türkei denkbar. Auch im Gasstreit im östlichen Mittelmeer werden Griechen, Zyprer und die EU weiter mit der Türkei rechnen müssen. In Berg-Karabach hat Putin die Türken zwar erst einmal auflaufen lassen, doch der Konflikt ist noch nicht vorbei.

Trotz kurzfristi­ger Erfolge sieht Aydemir langfristi­g schwere Probleme auf die Türkei zukommen. Noch nie in der fast 100-jährigen Geschichte der Republik sei die Türkei so isoliert gewesen, sagt Aydemir unserer Redaktion. Außerdem treibe Erdogans Politik ausländisc­he Investoren aus dem Land. Künftige türkische Regierunge­n würden Jahre oder Jahrzehnte brauchen, „um den diplomatis­chen und wirtschaft­lichen Schaden zu bereinigen, den sie von Erdogan erben werden“.

„Macron gehört in psychiatri­sche Behandlung“

Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei

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