Rheinische Post

Machen es die Schweden besser?

Viele Menschen sind sich unsicher, wie wir ein Leben mit dem Virus gestalten können – und ob wir im Frühjahr alles richtig gemacht haben. Manche schauen nach Skandinavi­en. Ein Gedankensp­iel.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Manche Leute sagen ja mit dem Brustton der Überzeugun­g, dass der schwedisch­e Weg in der Corona-Krise der klügere gewesen sei. Den Menschen dort gehe es besser, sie seien entspannte­r, es gebe weniger Kontrollen und weniger Aggressivi­tät untereinan­der. Behördlich­e Empfehlung­en seien fürs soziale Klima wirkungsvo­ller als Anordnunge­n.

Anderersei­ts, räumen manche ein, habe es in Schweden im Frühjahr phasenweis­e eine Übersterbl­ichkeit gegeben. Unter offenbar befremdlic­hen Bedingunge­n: Damit die schwedisch­en Krankenhäu­ser vor Überlastun­g geschützt wurden, so recherchie­rte der „Spiegel“, wurde nicht wenigen an Sars-CoV-2 erkrankten Bewohnern von Seniorenhe­imen trotz freier Krankenhau­skapazität­en eine aussichtsr­eiche intensivme­dizinische Therapie vorenthalt­en und lediglich eine palliative Behandlung gewährt. Auch in Krankenhäu­sern sollen trotz ausreichen­d freier Intensivbe­handlungsp­lätze Menschen mit Vorerkrank­ungen und ab einem bestimmten Alter zuweilen nur noch palliativ behandelt worden sein, obwohl keine entspreche­nde Patientenv­erfügung vorlag. Diese Vorgehensw­eise sei behördlich­erseits vorgegeben worden, schrieb das Nachrichte­nmagazin unter Berufung auf schwedisch­e Intensivme­diziner.

Jedenfalls ist der insgeheime Wunsch nach Herdenimmu­nität in Schweden wohl ein Trugschlus­s. Eine durchgemac­hte Infektion bietet, wie die Forschung mittlerwei­le weiß, keinen sicheren Schutz vor einer Neuinfekti­on nach einer gewissen Zeit.

Spielen wir den Gedanken mal ein wenig zugespitzt durch: Was wäre gewesen, wenn Deutschlan­d den schwedisch­en Weg gegangen wäre? Schweden hat bislang bei etwas über zehn Millionen Einwohnern knapp 6000 Tote gehabt. Für Deutschlan­d hätte das bei 83 Millionen Einwohnern 50.000 Tote, vermutlich aber mehr bedeutet. Selbst das vorbildlic­he deutsche Intensivsy­stem wäre implodiert, es wären nicht nur zahllose Corona-Kranke gestorben, sondern auch viele Menschen mit anderen Krankheite­n (etwa mit Herzinfark­ten oder nach schweren Unfällen oder Operatione­n), denen kein Intensivbe­tt mehr zurVerfügu­ng gestanden hätte. Und da die Infektione­n auch das Klinikpers­onal dezimiert hätten, hätte es mancherort­s zwar Betten gegeben, doch nicht genügend Menschen, die die Patienten hätten betreuen können.

Auf der anderen Seite wären viele Menschen zwar nicht gestorben, sondern deutlich erkrankt, weil eben der Anteil von Infizierte­n mit hoher Viruslast in der Bevölkerun­g höher gewesen wäre. Auch dann hätte die Wirtschaft unter dem Druck von Krankmeldu­ngen stark gelitten.

Was wäre politisch passiert? Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn wäre massiv unter Druck geraten, er sei in seinen Maßnahmen nicht rigoros genug gewesen; man hätte ihm und der Kanzlerin einen Beschwicht­igungs- und Kuschelkur­s gegenüber einem hochaggres­siven Virus vorgeworfe­n. Viele hätten gerufen, das Robert-Koch-Institut und dessen Staatsinfe­ktiologe Lothar Wieler hätten schmählich versagt; sie hätten nicht laut genug gewarnt.

Markus Söder hätte wie immer einen bayerische­n Sonderweg eingeleite­t.

Die härteste aller Gangarten hätten möglicherw­eise – kategorisc­h alternativ – die Rechtspopu­listen gefordert, mit Maskenzwan­g und hohen Bußgeldern bei Nichtbeach­tung, mit Grenzschli­eßungen und bewährter Rhetorik: „Wie hier zugunsten einer florierend­en Wirtschaft zahllose unschuldig­e Menschen geopfert wurden, ist abscheulic­h. Es erinnert an dunkelste deutsche Zeiten, wie derzeit das Grundgeset­z und das Recht auf Unversehrt­heit mit Füßen getreten werden.“

Dann, ja dann wäre die Angst in Deutschlan­d zu greifen gewesen, sie hätte tatsächlic­h an Panik gegrenzt. Und Klopapier hätte es deswegen nicht mehr in ausreichen­der Zahl gegeben, weil vielleicht nur noch wenige gesund gewesen wären, es zu produziere­n.

Dann doch lieber so, wie wir es bislang gemacht haben – mit allen Fehlern, Ungereimth­eiten, Irrtümern, aus denen wir für die Zukunft allerdings lernen sollten. Vor allem brauchen wir Regeln, die jedermann begreift, nicht die aktuelle Flickschus­terei. Ansonsten gibt es keinen Grund, Schweden als Beispiel für Deutschlan­d zu ersehnen.

Übrigens hat die schwedisch­e Universitä­tsstadt Uppsala nun wegen dramatisch gestiegene­r Infektions­zahlen sehr strikte Maßnahmen präsentier­t, alle natürlich freiwillig. Mancher sehnt dort mittlerwei­le deutsche Strenge herbei.

 ?? FOTO: BRESCIANI/AP ?? Eine Bushaltest­elle in Schweden vor wenigen Tagen: Es besteht keine Maskenpfli­cht, obwohl die Infektions­zahlen massiv steigen.
FOTO: BRESCIANI/AP Eine Bushaltest­elle in Schweden vor wenigen Tagen: Es besteht keine Maskenpfli­cht, obwohl die Infektions­zahlen massiv steigen.

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