Sitzen ist das neue Rauchen
Studien zeigen, dass körperliche Beschwerden im Homeoffice zunehmen. Düsseldorfer Kliniken bieten eine Hotline.
DÜSSELDORF Wir sitzen uns durchs Leben – bei der Arbeit, im Auto, vor dem Fernseher. Gesundheitsexperten werten„Sitzen als das neue Rauchen“, das in Corona-Zeiten wohl noch schwerer wiegt. Denn viele Menschen arbeiten nach wie vor (oder auf Dauer) zu Hause und sitzen dort meist mehr als im Büroalltag.„Die körperlichen Beschwerden nehmen durch das Homeoffice zu“, zu diesem Schluss kommt Desiree Daverveldt-König und stützt ihre Einschätzung auf neueste Studien. Die Leiterin der Physiotherapie von Marienhospital und St.-Vinzenz-Krankenhaus hat deshalb soeben eine Hotline eingerichtet – um Bewegung in das Thema zu bringen.
Sie will nicht missverstanden werden: Im Prinzip begrüßt Desiree Daverveldt-König die Möglichkeit, mehr in den eigenen vier Wänden zu arbeiten. „Wenn es der Wunsch von Arbeitnehmern ist.“Diese Freiwilligkeit sei entscheidend, ebenso wie die Ausstattung des Arbeitsplatzes im Homeoffice. In Unternehmen seien ergonomische Stühle, Podeste für den PC, spezielle Arm-Auflagen heute meist selbstverständlich, „zu Hause ist es das nicht.“Da stimmt das Klischee von der Arbeit am Küchentisch nur allzu oft, die für den Rücken und den Nacken schädlich ist.
Aber selbst wenn der Büromensch über einen körperfreundlichen Arbeitsplatz verfügt: „Langes Sitzen macht krank!“Die Aktion gesunder Rücken fasst die Folgen zusammen: Herz- und Kreislaufsystem laufen auf Sparflamme, Magenund Darmtätigkeit verlangsamen sich, das „gute“Cholesterin, das die Blutgefäße vor Verkalkung schützt, wird deutlich geringer produziert, Kraft und Ausdauern gehen verloren. Die Initiative zitiert Studien, wonach Menschen, die jeden
Tag mehr als sechs Stunden sitzen, eine um 20 Prozent geringere Lebenserwartung haben. Zugespitzt: „Wer lange sitzt, ist früher tot.“Das sei umso besorgniserregender, da 57 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen zu den „Dauersitzern“zählen würden.
Im Homeoffice aber fallen oft auch kurze Wege flach, die im Büro selbstverständlich sind: der Gang in die Kantine, in die Kaffeeküche, zum Kopiergerät, zum Austausch mit Kollegen in einem anderen Stockwerk. Desiree Daverveldt-König rät deshalb dringend dazu, wenigstens jede halbe Stunde mal aufzustehen und sich kurz zu bewegen und vor allem: „Oft die Haltung zu verändern.“Sie verweist auf eine niederländische Studie, die nicht nur nachgewiesen hat, dass Beschwerden durch die Heimarbeit zunehmen, sondern dass als Folge die Physiotherapeuten deutlich mehr zu tun haben.
Deshalb hat sie sich entschlossen, möglichst frühzeitig Hilfen anzubieten:„Wir wollen vorausschauend handeln.“Heißt: Ihr Team von 30 Physiotherapeuten und -therapeutinnen arbeitet nicht nur in der stationären Versorgung beider Kliniken, sondern auch ambulant und bietet Tipps für mehr Bewegung im Arbeitsalltag, Präventionskurse und schließlich therapeutische Behandlung, wenn der Schmerz in Rücken und Nacken festsitzt – falls nötig, auch in der Kombination mit der Schmerzklinik. „Der Vorteil dabei ist, dass neue Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung in unsere tagtägliche Arbeit transportiert werden.“
Nicht nur in Corona-Zeiten hat sich dabei ein Prinzip bewährt: „Wir erfragen die individuelle Situation eines Menschen, sprechen über den Beruf, die täglichen Anforderungen und Belastungen.“Ein Möbelpacker, der ständig schwer heben muss, brauche nun mal eine andere Rückenschulung als ein Mensch mit einer Bürotätigkeit, der über Stunden sitzt. Außerdem haben Rückenschmerzen häufig mehrere Ursachen, ist jemand vielleicht unzufrieden im Job, kann diese Situation Stress auslösen, was wiederum zu Verspannungen und schließlich zu Schmerzen führt. „Wir wissen, dass psychische Belastungen Einfluss haben auf körperliche Beschwerden“, so die Expertin. Einer solchen Entwicklung möglichst früh entgegen zu wirken, sei schließlich auch im Sinne von Unternehmen, denn Studien hätten auch gezeigt, dass Dauerschmerzen in Nacken, Schultern und Rücken immer häufiger Gründe für Berufsunfähigkeit sind.
Die gute Nachricht: Sobald der Mensch seine Muskeln in Schwung bringt, wird der Stoffwechsel positiv beeinflusst, die Hirnleistung steigt, das Immunsystem wird gestärkt. Und dem Rücken helfen schon kleine Bewegungen. Der Rat der Expertin: Zum Telefonieren aufstehen, zum Nachdenken oder um ein Manuskript zu lesen herumlaufen, mittags ein paar Schritte durch den Park gehen.
Die Kraft der Bewegung wusste schon Goethe zu schätzen, von dem der Satz überliefert ist: „Bequeme Sitzmöbel heben mein Denken.“Ansonsten schätzte er die Arbeit an einem Stehpult.