Ein Requiem für die Lebenden
Das Theater Oberhausen zeigt das Projekt „Schlingensief 2020“. Das Radikale, Grenzüberschreitende daran hätte ihm gefallen.
OBERHAUSEN In den zweieinhalb Jahren vor seinem Tod im August 2010 war Christoph Schlingensief vor allem ein Künstler des Sterbens. Er wurde ein Vorreiter für das öffentliche Sprechen über Schwächen und Krankheiten, machte seine Lungenkrebs-Diagnose öffentlich und widmete ihr die starke Ruhrtriennale-Produktion „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“.
Das Theater in seiner Heimatstadt Oberhausen hat Schlingensief, der am 24. August 60 Jahre alt geworden wäre, jetzt mit mehreren Kooperationspartnern in der Stadt das Festival „Schlingensief 2020“gewidmet. Es hat das Thema Sterben in einer starken neuen Arbeit aufgenommen – und wurde von einer spektakulären Kunstaktion überschattet.
Das Beuys-Zitat „Zeige deine Wunde, und du wirst geheilt“war Christoph Schlingensief ein Ansporn für die schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit. Regisseurin Saskia Kaufmann und Dramaturg Raban Witt haben daran entlang eine zentrale Arbeit des Festivals entwickelt: „Sterben in Oberhausen“. Sie legt den Finger in die größte Wunde des Menschen – die eigene Sterblichkeit, mit der man sich in unserer Kultur nur ungern auseinandersetzt. Um das zu ändern, haben Kaufmann und Witt ein neues Ritual erfunden, eine Trauerfeier für die Lebenden.
Das Ritual besteht jeweils aus acht Trauernden und einer zu betrauernden Person, die sich vorher im „Trauerbüro“am Festivalzentrum auf dem Oberhausener Altmarkt einfinden und dort im persönlichen Gespräch etwas über ihr Leben preisgeben konnte. Samstagabend war im weitgehend leeren Theater Oberhausen Stella, eine junge Frau aus dem Ruhrgebiet, die zu Betrauernde. Die Trauergäste in langen, beigen Mänteln erfahren von einem Redner Schnipsel aus ihrem Leben: „Sie antwortet oft in wenigen Worten.“– „Sie kocht gern vegan.“
In der Folge beweist Stella Durchhaltevermögen und großen Mut. Während die Trauernden, angeleitet von der Zeremonienmeisterin, in einem neu erlernten Bewegungsablauf Kraft schenken, spricht der Redner das unvermeidlich in der Zukunft Liegende aus:„Du wirst keinen Körper mehr haben, Stella! Du wirst nicht mehr mit Freunden kochen können, Stella. Deine Steueridentifikationsnummer wird neu vergeben werden können.“Irgendwann kullern bei der Betrauerten tatsächlich Tränen, und die Trauernden sind ergriffen. Bei einer anderen Aufführung verließ ein Besucher den Raum aus Pietätsgefühl.
An diesen Stellen wird klar, dass die Arbeit in Schlingensiefs Sinn wirkt. Der Oberhausener war immer an radikalem, grenzüberschreitendem Neu-Denken interessiert, das vor den Kopf stößt, an althergebrachten Ritualen und innersten Überzeugungen rüttelt. In einer Aufzeichnung seines Stücks „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, die im Programm in der Herz-Jesu-Kirche (quasi dem Original-Schauplatz) gezeigt wurde, hätte man ihn dabei erleben können, wie er dies in seiner eigenen Sprache tut. Peinlicherweise waren die Festivalmacher nicht in der Lage, die Technik so einzurichten, dass man im hallenden Kirchenraum auch nur ein Wort verstehen konnte.
Eine spektakuläre Aktion, die Schlingensief – und Beuys – wahrscheinlich gefallen hätte, brachte vor Beginn des Festivals die Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule: Sie raubte Beuys` Plastik „Capri-Batterie“aus der das Programm begleitenden Ausstellung und veröffentliche ein Video, das drei Mitglieder der Gruppe dabei zeigt, wie sie das Objekt im Kolonialisten-Stil nach Tansania bringen und das Prinzip Raubkunst einmal umkehren.Wahrscheinlich ist die Aktion nur inszeniert, doch sie berührt Schlingensiefs Arbeit, weil er beim Bau seines Operndorfs in Burkina Faso ebenfalls kritisch über das Verhältnis von Europa und Afrika reflektiert hat.