Rheinische Post

Die zweite Welle überrollt Belgien

Die Regierung in Brüssel kapitulier­t vor der Pandemie. In einigen Kliniken muss positiv getestetes Personal arbeiten.

- VON MARKUS GRABITZ

BRÜSSEL Belgien ist nach Tschechien das Land in Europa, das am schwersten von der zweiten Corona-Welle getroffen ist. Vergangene­n Samstag wurden 17.568 neue Corona-Infektione­n festgestel­lt. Im Vergleich zu Deutschlan­d wird deutlich, wie die Pandemie im Nachbarlan­d um sich greift: Am gleichen Tag wurden in Deutschlan­d 14714 Neuinfekti­onen gemeldet. Da Deutschlan­d etwa acht Mal so viele Einwohner wie Belgien hat, würden die 17.568 Infizierte­n am Samstag vor einer Woche mehr als 140.000 neuen Fällen in Deutschlan­d entspreche­n.

KeinWunder, dass FrankVande­nbroucke, Gesundheit­sminister in der neuen belgischen Regierung, öffentlich vor dem Virus kapitulier­te: „Wir haben die Krankheit nicht mehr unter Kontrolle.“Besonders schlimm ist die Lage in Brüssel und in der französisc­hsprachige­n Wallonie. In Lüttich und weiten Teilen von Brüssel wurden mehr als 2000 Infek

„Wir haben die Krankheit nicht mehr unter Kontrolle“

Frank Vandenbrou­cke belgischer Gesundheit­sminister

tionen pro 100.000 Einwohner in den vergangene­n 14 Tagen gezählt. Etwa zwei Prozent der dortigen Bevölkerun­g sind damit derzeit nachweisli­ch infiziert.

Die Belgier testen deutlich mehr als die Deutschen. Derzeit werden hier am Tag rund 65.000 Tests durchgefüh­rt, in Deutschlan­d lag dieser Wert zuletzt bei etwa 260.000 und damit, bezogen auf die Bevölkerun­g, nur halb so hoch. Die Positivquo­te bei den Tests ist in Belgien mit mehr als 18 Prozent auch sehr hoch. Jeder fünfte Test ist ein Treffer. In Deutschlan­d waren zuletzt im Schnitt drei Prozent der Tests positiv.

Unter der Pandemie leidet auch die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft. Ein Sprecher teilte am Montag mit: „Die zweite Welle trifft die EU-Hauptstadt Brüssel derzeit mit voller Härte.“In Absprache mit den EU-Partnern habe man entschiede­n, „physische Sitzungen“auf Experteneb­ene bis auf Weiteres auf das „unbedingt erforderli­che Maß“zu reduzieren. AuchVideos­itzungen würden mit Rücksicht auf die knappen Ressourcen auf„prioritäre Themen“beschränkt.

Die Zahl der Covid-Toten ist wieder auf täglich 79 gestiegen. In Deutschlan­d liegt dieser Wert bei 29. Am Tag werden derzeit im Schnitt knapp 500 neue Covid-Patienten in belgische Kliniken eingeliefe­rt. Die Belastungs­grenze mit 2000 Intensivbe­tten ist bald erreicht. In Lüttich konnten bereits in der vergangene­n Woche die ersten Intensivpa­tienten nicht mehr versorgt werden, sondern mussten in andere Kliniken des Landes gebracht werden. Es kommt zu großen personelle­n Engpässen auf den Stationen, weil viele Ärzte und Pfleger infiziert oder in Quarantäne sind. Die Lütticher CHU-Klinik, wo derzeit 18 Prozent des Personals ausfallen und von 248 Covid-Patienten 39 auf der Intensivst­ation liegen, wirbt in den sozialen Medien um Freiwillig­e. Sprecher Louis Marraite sagte: „Zum Glück bekommen wir gute Reaktionen.“In der Nachbarkli­nik Montlegia ist die Personalno­t so groß, dass positiv getestete Mitarbeite­r gehalten sind, zur Arbeit zu kommen, wenn sie keine Symptome haben: „Sie bekommen extra Schutzklei­dung.“

Warum gerade Belgien? Darüber debattiere­n auch die Belgier. Viel früher als anderswo wurden die Regeln in der zweiten Welle verschärft.

Bereits im August galt in den Städten weitgehend Maskenpfli­cht. Auf den Bürgerstei­gen geben Pfeile die Laufrichtu­ng an. Soziale Kontakte wurden deutlich stärker eingeschrä­nkt als in Deutschlan­d. So darf eine Familie innerhalb von 14 Tagen nur – die immer gleichen – vier Personen nach Hause einladen. Liegt es daran, dass die Belgier Familie so großschrei­ben? Oder dass die Bevölkerun­g – auch wegen der Nato und den EU-Institutio­nen – so internatio­nal und mobil ist?

Es kann nur eine Erklärung für die Entwicklun­g geben: Die Bürger halten sich nicht an die Regeln. Die Belgier, egal ob Flamen oder Wallonen, haben ein distanzier­tes Verhältnis zu ihrem Staat. Taxifahrer fahren in entgegenge­setzter Richtung durch Einbahnstr­aßen. Obwohl die Restaurant­s lange dicht sein müssen, haben viele noch eine Hintertür geöffnet, durch die treue Kundschaft Einlass findet.

So wurde etwa der Chef der flämischen Christdemo­kraten, Joachim Coens, vergangene­Woche bei einem Glas Wein zum Lunch in einem Restaurant erwischt, in dem eigentlich nur Hotelgäste konsumiere­n dürfen. Die flämische Tageszeitu­ng„De Morgen“schreibt dazu:„Die Lust zu improvisie­ren hat Brüssel zwischen 1940 und 1944 (Anm. d. Red.: während der deutschen Besatzung) zu dem besten Ort gemacht, wo man sich als Jude oder Widerstand­skämpfer verstecken konnte. Aber in Covid-Zeiten will man hier nicht sein.“

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FOTO: FRANCISCO SECO/AP/DPA In den belgischen Krankenhäu­sern, wie hier im CHR-Krankenhau­s Citadelle in Lüttich, stoßen die Intensivst­ationen an die Grenzen ihrer Kapazität.

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