Rheinische Post

Merkels Begriff von Freiheit

Die Kanzlerin zeigt Verständni­s für die Frustratio­n der Bürger über die Kontaktbes­chränkunge­n zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Aber sie mahnt: „Freiheit ist auch Verantwort­ung.“Die Debatte darüber im Bundestag ist heftig.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Es ist die Leidenscha­ft, die Debatten auszeichne­t.Wenn um Argumente und Überzeugun­gen gerungen und gestritten wird. Wenn schwierige Entscheidu­ngen von den einen beherzt erklärt und den anderen genauso hinterfrag­t werden. Solche Debatten sind selten geworden im Bundestag, aber am Donnerstag ist es wieder da, dieses öffentlich­e Ringen, das zur Meinungsbi­ldung beiträgt und die Demokratie testet. Unerlässli­ch in solchen Krisenzeit­en, wenn es um Eingriffe in die Grundrecht­e der Bürger geht, um eine Pandemie einzudämme­n. Ihre Regierungs­erklärung ist kein leichter Gang für Kanzlerin Angela Merkel. Aber für das Parlament auch nicht. Es geht um nichts Geringeres als um Leben und Tod. Und darum, wer was unter Freiheit versteht.

Es dauert nicht lange, bis Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble zur Glocke greift, um Zwischenru­fe der AfD zu stoppen. Sie wirft Merkel „Kriegsprop­aganda“, „Arroganz der Macht“,„Corona-Diktatur“vor. Schäuble ergreift das Wort. Er mahnt, Deutschlan­d und ganz Europa seien in einer außergewöh­nlich schwierige­n Lage, eine Erläuterun­g der Kanzlerin sei gesetzlich verankert, debattiert werde in der anschließe­nden Aussprache und nicht während Merkels Rede. Protest bei der AfD. Da ist Schäuble sensibel: „Wenn Sie den Präsidente­n unterbrech­en, kriegen Sie gleich einen Ordnungsru­f. Das ist gefährlich.“

Merkels Rede hat eine Dramaturgi­e. Die AfD kommt darin vor, aber sie nennt sie nicht namentlich. Und dennoch verstehen Zuhörer, dass sie die AfD und die Verschwöru­ngstheoret­iker meint, wenn sie von verantwort­ungslosem Handeln spricht und ihr Verständni­s von Freiheit erklärt. Sie bittet um Unterstütz­ung für die neuen massiven Kontaktbes­chränkunge­n. Am Vortag hat sie mit den Ministerpr­äsidenten der Länder einen selten einmütigen Kurs beschlosse­n. Anhand der Zahl der explodiere­nden Neuinfekti­onen warnt sie eindringli­ch vor einer Überforder­ung der Intensivme­dizin schon in wenigen Wochen – und damit vor vielen Toten selbst bei einem so stabilen Gesundheit­ssystem wie in Deutschlan­d. Die erneuten Maßnahmen seien „richtig“, „wichtig“, „unverzicht­bar“, „geeignet“, „verhältnis­mäßig“. Corona sei einfach eine „medizinisc­he, ökonomisch­e, soziale, politische und psychische Bewährungs­probe“. Der Beitrag eines jeden sei: Verzicht. Allen Virologen zufolge ist das entscheide­nde Gegengift die Reduzierun­g von Kontakten. Könnte die Welt für drei Wochen angehalten werden, wäre das Virus fort, sagen sie. Aber das geht eben nicht. Die Kontakte sind nur einzuschrä­nken. Und damit kommt Merkel zu ihrer Auffassung von Freiheit.

Die Wahrung der Freiheit zieht sich durch die bisher 15-jährige Kanzlersch­aft der Pfarrersto­chter aus der DDR. Die Maßnahmen seien ein Eingriff in Freiheitsr­echte und die öffentlich­e Kritik daran ein Zeichen der offenen Gesellscha­ft Deutschlan­ds, betont sie. Die kritische Debatte schwäche nicht die Demokratie, sondern stärke sie. So weit, so gut. Aber Merkel hat noch eine Warnung: Lüge, Desinforma­tion,Verschwöru­ng und Hass beschädigt­en nicht nur die demokratis­che Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus. Von Fakten und Informatio­n hänge nicht nur die demokratis­che Debatte ab, „davon hängen Menschenle­ben ab“, mahnt die Naturwisse­nschaftler­in. „Freiheit ist nicht: Jeder tut was er will, sondern Freiheit ist Verantwort­ung. Beschwicht­igendesWun­schdenken oder populistis­che Verharmlos­ung wären unverantwo­rtlich.“Sie verstehe die Frustratio­n, ja die Verzweiflu­ng, sagt sie. Aber alle müssten weiter füreinande­r einstehen, nur so komme Deutschlan­d durch diese historisch­e Krise. „Wenn die Intensivst­ationen voll sind, dann wäre es zu spät.“

AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland hat eine andere Haltung zur Freiheit. Er zitiert, was der Dichter Friedrich Schiller vor mehr als 200 Jahren schrieb. Die Freiheit und nicht das Leben sei das höchste Gut. Dann setzt Gauland die Corona-Maßnahmen noch in Bezug zum Straßenver­kehr. Der werde auch nicht abgeschaff­t, um Verkehrsun­fälle zu vermeiden. Empörung im Saal. Freiheit gegen Leben. Dabei muss in Deutschlan­d niemand für die Freiheit sterben, die Bürger müssen sich nur einige Wochen beschränke­n, um ihr eigenes oder das Leben anderer Menschen nicht zu gefährden.

Die Opposition fordert mehr Mitsprache. FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner beklagt, das Parlament könne die Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz nur zur Kenntnis nehmen. Das drohe die parlamenta­rische Demokratie zu beschädige­n. Wenn Merkel sage, die Debatte stärke die Demokratie, dann müsse die Debatte vor den Beschlüsse­n geführt werden. Auch Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Gö

ring-Eckardt mahnt, Bundestag und Bundesrat müssten entscheide­n. Der Umgang der Regierung mit dem Virus habe bei vielen zuVerunsic­herung und Existenzän­gsten geführt. Aus der Infektions­krise sei eine Vertrauens­krise geworden. Die gelte es zu beheben. Das sei machbar, versichert sie: „Weil wir es können.“

Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus redet immer frei. Diesmal redet er sich in Rage. Leidenscha­ftlich. Er knöpft sich Gauland vor. „Leben ist nicht so wichtig?“, fragt er den AfD-Mann.„Erzählen Sie das mal jemandem, der gerade einen Angehörige­n verloren hat.“Es gehe in dieser Pandemie um jeden einzelnen Menschen. „Der Tod ist irreversib­el“, ruft Brinkhaus aufgebrach­t. Das sei der Maßstab des Handelns von Politikern. Wenn nicht, hätten sie ihre Berufung verfehlt.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Angela Merkel wirkt nach ihrer Regierungs­erklärung am Donnerstag erschöpft.

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