Merkels Begriff von Freiheit
Die Kanzlerin zeigt Verständnis für die Frustration der Bürger über die Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Aber sie mahnt: „Freiheit ist auch Verantwortung.“Die Debatte darüber im Bundestag ist heftig.
BERLIN Es ist die Leidenschaft, die Debatten auszeichnet.Wenn um Argumente und Überzeugungen gerungen und gestritten wird. Wenn schwierige Entscheidungen von den einen beherzt erklärt und den anderen genauso hinterfragt werden. Solche Debatten sind selten geworden im Bundestag, aber am Donnerstag ist es wieder da, dieses öffentliche Ringen, das zur Meinungsbildung beiträgt und die Demokratie testet. Unerlässlich in solchen Krisenzeiten, wenn es um Eingriffe in die Grundrechte der Bürger geht, um eine Pandemie einzudämmen. Ihre Regierungserklärung ist kein leichter Gang für Kanzlerin Angela Merkel. Aber für das Parlament auch nicht. Es geht um nichts Geringeres als um Leben und Tod. Und darum, wer was unter Freiheit versteht.
Es dauert nicht lange, bis Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zur Glocke greift, um Zwischenrufe der AfD zu stoppen. Sie wirft Merkel „Kriegspropaganda“, „Arroganz der Macht“,„Corona-Diktatur“vor. Schäuble ergreift das Wort. Er mahnt, Deutschland und ganz Europa seien in einer außergewöhnlich schwierigen Lage, eine Erläuterung der Kanzlerin sei gesetzlich verankert, debattiert werde in der anschließenden Aussprache und nicht während Merkels Rede. Protest bei der AfD. Da ist Schäuble sensibel: „Wenn Sie den Präsidenten unterbrechen, kriegen Sie gleich einen Ordnungsruf. Das ist gefährlich.“
Merkels Rede hat eine Dramaturgie. Die AfD kommt darin vor, aber sie nennt sie nicht namentlich. Und dennoch verstehen Zuhörer, dass sie die AfD und die Verschwörungstheoretiker meint, wenn sie von verantwortungslosem Handeln spricht und ihr Verständnis von Freiheit erklärt. Sie bittet um Unterstützung für die neuen massiven Kontaktbeschränkungen. Am Vortag hat sie mit den Ministerpräsidenten der Länder einen selten einmütigen Kurs beschlossen. Anhand der Zahl der explodierenden Neuinfektionen warnt sie eindringlich vor einer Überforderung der Intensivmedizin schon in wenigen Wochen – und damit vor vielen Toten selbst bei einem so stabilen Gesundheitssystem wie in Deutschland. Die erneuten Maßnahmen seien „richtig“, „wichtig“, „unverzichtbar“, „geeignet“, „verhältnismäßig“. Corona sei einfach eine „medizinische, ökonomische, soziale, politische und psychische Bewährungsprobe“. Der Beitrag eines jeden sei: Verzicht. Allen Virologen zufolge ist das entscheidende Gegengift die Reduzierung von Kontakten. Könnte die Welt für drei Wochen angehalten werden, wäre das Virus fort, sagen sie. Aber das geht eben nicht. Die Kontakte sind nur einzuschränken. Und damit kommt Merkel zu ihrer Auffassung von Freiheit.
Die Wahrung der Freiheit zieht sich durch die bisher 15-jährige Kanzlerschaft der Pfarrerstochter aus der DDR. Die Maßnahmen seien ein Eingriff in Freiheitsrechte und die öffentliche Kritik daran ein Zeichen der offenen Gesellschaft Deutschlands, betont sie. Die kritische Debatte schwäche nicht die Demokratie, sondern stärke sie. So weit, so gut. Aber Merkel hat noch eine Warnung: Lüge, Desinformation,Verschwörung und Hass beschädigten nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus. Von Fakten und Information hänge nicht nur die demokratische Debatte ab, „davon hängen Menschenleben ab“, mahnt die Naturwissenschaftlerin. „Freiheit ist nicht: Jeder tut was er will, sondern Freiheit ist Verantwortung. BeschwichtigendesWunschdenken oder populistische Verharmlosung wären unverantwortlich.“Sie verstehe die Frustration, ja die Verzweiflung, sagt sie. Aber alle müssten weiter füreinander einstehen, nur so komme Deutschland durch diese historische Krise. „Wenn die Intensivstationen voll sind, dann wäre es zu spät.“
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland hat eine andere Haltung zur Freiheit. Er zitiert, was der Dichter Friedrich Schiller vor mehr als 200 Jahren schrieb. Die Freiheit und nicht das Leben sei das höchste Gut. Dann setzt Gauland die Corona-Maßnahmen noch in Bezug zum Straßenverkehr. Der werde auch nicht abgeschafft, um Verkehrsunfälle zu vermeiden. Empörung im Saal. Freiheit gegen Leben. Dabei muss in Deutschland niemand für die Freiheit sterben, die Bürger müssen sich nur einige Wochen beschränken, um ihr eigenes oder das Leben anderer Menschen nicht zu gefährden.
Die Opposition fordert mehr Mitsprache. FDP-Fraktionschef Christian Lindner beklagt, das Parlament könne die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz nur zur Kenntnis nehmen. Das drohe die parlamentarische Demokratie zu beschädigen. Wenn Merkel sage, die Debatte stärke die Demokratie, dann müsse die Debatte vor den Beschlüssen geführt werden. Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Gö
ring-Eckardt mahnt, Bundestag und Bundesrat müssten entscheiden. Der Umgang der Regierung mit dem Virus habe bei vielen zuVerunsicherung und Existenzängsten geführt. Aus der Infektionskrise sei eine Vertrauenskrise geworden. Die gelte es zu beheben. Das sei machbar, versichert sie: „Weil wir es können.“
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus redet immer frei. Diesmal redet er sich in Rage. Leidenschaftlich. Er knöpft sich Gauland vor. „Leben ist nicht so wichtig?“, fragt er den AfD-Mann.„Erzählen Sie das mal jemandem, der gerade einen Angehörigen verloren hat.“Es gehe in dieser Pandemie um jeden einzelnen Menschen. „Der Tod ist irreversibel“, ruft Brinkhaus aufgebracht. Das sei der Maßstab des Handelns von Politikern. Wenn nicht, hätten sie ihre Berufung verfehlt.