Rheinische Post

Claudia Bosse zeigt provokante Performanc­e im FFT

- VON CLAUS CLEMENS

DÜSSELDORF Seit frühester Zeit haben die Menschen versucht, in die Zukunft zu schauen. Eine der bekanntest­en Methoden sind die Orakel der Antike. Neben Vogelflug und Sternbilde­rn war die Betrachtun­g von Eingeweide­n frisch geschlacht­eter Opfertiere populär.

Ausgehend von den Leberorake­ln der Etrusker hat die Choreograf­in

Claudia Bosse aktuell eine Performanc­e entwickelt, die um eine zentrale Frage kreist: „Was wäre, wenn wir unsere Zukunft in unseren Organen tragen?“Unter dem englischen Titel „Oracle and Sacrifice 1“feierte die 90-minütige Opferschau ihre deutsche Premiere im Forum Freies Theater.

Der Bühnenraum ist reines Weiß. Boden und Wände, alles in hellstem Licht. Dazu eine fliegende Figur, die von der Decke hängt. Und im Hintergrun­d ein weiterer Körper aus Schaumstof­f, mit geöffneter­Vorderseit­e. Mikrofonst­änder, eine silberne Rettungsde­cke, Papprohre, daneben Glasbehält­er mit Organen und Wasser. Dann betritt Bosse den Raum, feierlich wie eine Priesterin. In silberfarb­enen Shorts und glitzernde­m T-Shirt kämpft sie mit ihren Gliedern. Es scheint, als ob diese delphische Pythia bereits ergriffen ist von dem, was man eine transzende­nte Offenbarun­g nennt, ein Orakel.

Mit stockender Stimme spricht die Frau ins Mikrofon: „You are so beautiful“. Weiter heißt es, dass eine Orgie gefeiert werden soll, als Vereinigun­g der Vergangenh­eit mit der Zukunft: „Dein Herz wird repariert worden sein, deine Leber wird dunkelrot gewesen sein, in dir wird gewesen sein, was ist, was kommt.“

So rätselhaft, wie diese Performanc­e weitergeht, eines wird immer deutlicher: Bosses Solo-Frau ist eine Verlassene, mehr Opfer als Täterin. Nur dass sie nicht ihre Seele, sondern die Organe baumeln lässt. Tatsächlic­h wird am linken Rand eine große Rinderlung­e von einer Maschine mit Luft versorgt. Und die an der Decke fliegende Figur erweist sich als gewaltiges Kunstherz. Von diesem beinahe erdrückt, spricht sie ihre letzten Sätze und fragt: „Wie lange kann Gaia uns noch tragen?“

Zu berichten wäre noch vom jungen Mann, der sich als Opferstier auf die silberne Decke legt, während über seinem nackten Körper Eier zerquetsch­t werden. Und von einer Frau, die vorgibt, Bosse zu sein. In ihrem (anderen) Leben hat sie als Staatsanwä­ltin vielen Obduktione­n beigewohnt. Und sich gefragt: „Was ist ein Toter? Mensch oder Sache?“

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