Rheinische Post

Die Krisenszen­arien der Wahlnacht Es könnte passieren, dass sich Donald Trump vorschnell zum Sieger ausruft. Eine spätere Ergebnisko­rrektur zu Gunsten Joe Bidens ist zu erwarten. All das birgt erhebliche­s Eskalation­spotenzial.

- VON FRANK HERRMANN

Vor vier Jahren klang es noch wie ein Scherz.Wie die Einlage eines Kandidaten, der gern gegen den Strich bürstete und mal wieder eine Kostprobe schrägen Humors geben wollte. In Delaware, einer Kleinstadt in Ohio, stand Donald Trump auf einer flaggenges­chmückten Bühne und sagte, dass er etwas Wichtiges zu verkünden habe.„Ich möchte all meinen Wählern und Anhängern und allen Menschen in den Vereinigte­n Staaten verspreche­n, dass ich das Ergebnis dieser großartige­n und historisch­en Präsidents­chaftswahl absolut akzeptiere­n werde“, deklamiert­e er, machte eine Kunstpause, ließ den Zeigefinge­r durch die Luft fahren und fügte hinzu: „Wenn ich gewinne.“

Damals, knapp drei Wochen vor dem Votum, hat man es abgetan als den plötzliche­n Einfall eines Mannes, der gern aus dem Stegreif redete und seinen Fans eine prickelnde Show bieten wollte, eine Show, die man nicht wirklich ernst nehmen musste. Diesmal ist das anders. Diesmal stimmt Trump seine Landsleute systematis­ch auf eine Wahl ein, die in seinen Worten nur dann legitim sein kann, wenn sie ihn im Amt bestätigt. Auf ein Votum, das gefälscht sein müsse, wenn es nicht mit seinem Sieg ende.Wegen der vielen Briefwahls­timmen werde es die „am meisten manipulier­te Wahl in der Geschichte unserer Nation“, schrieb er im Juni in einem Tweet. Wenn 80 Millionen Stimmzette­l an Leute geschickt würden, die nicht darum gebeten hätten, bahne sich „ein Riesenbetr­ug“an, twitterte er im September.

In Wahrheit hatte bereits 2016 rund ein Viertel der Wählerscha­ft per Brief abgestimmt, ohne dass nennenswer­te Manipulati­onen festgestel­lt wurden. Diesmal waren es, Stand Sonntag, 93 Millionen Amerikaner, die ihre Stimme entweder per Post abgegeben oder sich vorzeitig in ein Wahllokal begeben haben, aus Angst davor, sich am 3. November im zu erwartende­n Gedränge mit dem Coronaviru­s anzustecke­n. So viele wie noch nie. Nach einer Umfrage, die der Sender NBC bereits vor Wochen veröffentl­ichte, wollten 71 Prozent der Sympathisa­nten der Demokraten aus Vorsicht diesen Weg gehen. 54 Prozent derer, die Trump zuneigen – viele glauben ihm, wenn er die Corona-Gefahr kleinredet – waren dagegen entschloss­en, erst am Wahltag an eine Urne zu treten. Die Diskrepanz erklärt, warum der Amtsinhabe­r das Briefwähle­n unter Generalver­dacht stellt.

Was in der Nacht zum 4. November eintreten könnte, dafür haben Insider den Begriff „red mirage“geprägt. Die rote Fata Morgana, nach der Parteifarb­e der Republikan­er. Da in etlichen Bundesstaa­ten, etwa im hart umkämpften Pennsylvan­ia, zuvor eingegange­ne Wahlbriefe erst am Tag der Wahl geöffnet werden dürfen und persönlich abgegebene Stimmen bevorzugt ausgezählt werden, ist damit zu rechnen, dass Trump in der Nacht vorn liegt, vielleicht sogar relativ klar. Nach einem Bericht des Nachrichte­nportals Axios spielt er angeblich mit dem Gedanken, sich noch in der Nacht zum Sieger auszurufen, ohne die Auszählung der Briefwahls­timmen abzuwarten.

Im Laufe derWoche könnte nämlich der „blue shift“folgen, die Verschiebu­ng des Resultats zu Gunsten der Blauen, der Demokraten, zu Gunsten Joe Bidens. Je mehr Briefwahls­timmen ausgezählt sind, umso mehr schrumpft der Vorsprung Trumps, bis Biden irgendwann an ihm vorbeizieh­t. Wann das sein wird, ob es überhaupt so kommt, weiß niemand auch nur halbwegs seriös vorherzusa­gen. Klar ist allerdings, dass der Präsident seit Längerem für das Blue-shift-Szenario vorbaut.

Wahlsieger sei, wer in derWahlnac­ht auf die meisten Stimmen komme, betont er.

Sollte danach noch tagelang ausgezählt werden, nähre es nur den Betrugsver­dacht. Trumps Justizmini­ster William Barr hat es anhand des Beispiels Nevadas illustrier­t, des Wüstenstaa­ts, in dem die Demoskopen ein Kopf-an-Kopf-Rennen prognostiz­ieren. „Jemand wird verkünden, der Präsident hat Nevada gewonnen. Aber dann heißt es, halt, nicht so schnell!Wir haben gerade hunderttau­send Stimmzette­l entdeckt!“Man wisse aber nicht, sagte Barr, „woher die verdammten Stimmen kamen“. Denkbar ist, dass die Regierung Anwälte in Marsch setzt, um ein Ende der Auszählung zu erzwingen, während die Demokraten mit ihren Juristen dagegenhal­ten. So war es 2000 in Florida, als sich der Rechtsstre­it zwischen George W. Bush und Al Gore hinzog, bis ihn der Supreme Court am 12. Dezember im Sinne Bushs beendete. Das Drama Floridas könnte sich diesmal gleich mehrfach wiederhole­n, heißt es.

Hinzu kommt das Gewaltpote­nzial in einem Land, dessen Verfassung privaten Waffenbesi­tz garantiert. Rechte Milizen könnten sich berufen fühlen, Flagge zu zeigen – „das Ergebnis der Wahlnacht zu verteidige­n“, wie manche schon jetzt in sozialen Medien ankündigen. Sollte sich wiederum auf der Linken der Eindruck verfestige­n, dass der Präsident mit gezinkten Karten spielt, um an der Macht zu bleiben, könnte auch das zu heftigen Protesten führen. Falls Provokateu­re Öl ins Feuer gießen, droht eine Eskalation.

Das „Transition Integrity Project“, gewidmet dem friedliche­n Übergang der Macht in den zweieinhal­b Monaten zwischen dem Votum und der Vereidigun­g des neuen (oder alten) Staatschef­s, hat eine Reihe von Krisenszen­arien bereits durchgespi­elt. Am Ende, berichtet die Zeitschrif­t „The Atlantic“, habe die Gruppe, bestehend aus ehemals hochrangig­en Regierungs­mitarbeite­rn, Alarm geschlagen. Donald Trump, lautete eine ihrer Schlussfol­gerungen, habe durchaus ein Interesse daran, friedliche Demonstrat­ionen seiner Gegner in Gewalt umschlagen zu lassen. In seinem Kalkül wäre es der Beweis dafür, dass Biden für die„Herrschaft des Mobs“stehe.

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QUELLE: POLITICO | STAND: 2. NOVEMBER 2020 | GRAFIK: C. SCHNETTLER

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